Arbeitgeber sind ab Beginn des Arbeitsverhältnisses – und damit auch während der sechsmonatigen Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG – verpflichtet, bei schwerbehinderten und gleichgestellten Arbeitnehmern ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen, so entschied das Arbeitsgericht Köln (20.12.2023 – 18 Ca 3954/23) in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. Urteil vom 21.04.2016 – 8 AZR 402/14).
Der Fall
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristgerechten Arbeitgeberkündigung in der Wartezeit. Der schwerbehinderte Kläger war seit dem 01.01.2023 bei der beklagten Kommune im Bauhof beschäftigt. Dort wurde er in verschiedenen Kolonnen eingesetzt. Ende Mai 2023 erlitt der Kläger einen Kreuzbandriss und war über den Ausspruch der Kündigung hinaus arbeitsunfähig erkrankt. Im Juni hörte die Beklagte die Schwerbehindertenvertretung, den Personalrat und die Gleichstellungsbeauftragte zur beabsichtigten Kündigung in der Probezeit an. Zur Begründung führte sie an, dass die Arbeitsleistung des Klägers nicht den Erwartungen entsprochen und er sich auch nicht ausreichend ins Team eingefügt habe. Nachdem keine der Stellen Einwände geäußert hatte, sprach die Beklagte am 22.06.2023 zum 31.07.2023 die ordentliche und fristgerechte Kündigung aus. Gegen diese Probezeitkündigung in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses wehrte sich der Kläger im Wege der Kündigungsschutzklage mit der Begründung, die Schwierigkeiten bei der Einarbeitung seien behinderungsbedingt gewesen.
Die Entscheidung
Das Arbeitsgericht Köln hat der Klage stattgegeben und die Unwirksamkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB i. V. m. § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aufgrund einer Diskriminierung des Klägers wegen seiner Schwerbehinderung festgestellt. § 164 Abs. 2 SGB IX verbietet Arbeitgebern jede Benachteiligung schwerbehinderter Beschäftigter wegen ihrer Behinderung. Die Vorschrift trägt dem verfassungsrechtlichen Gebot der verbesserten Eingliederung schwerbehinderter Menschen (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) Rechnung und dient damit zugleich auch der Umsetzung der europäischen RL 2000/78 zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer-)Behinderung. Eine solche Vorschrift enthält § 167 Abs. 1 SGB IX. Hiernach schaltet der Arbeitgeber bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen, also Betriebs- oder Personalrat, sowie das Integrationsamt ein, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann.
Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BAG, so das Arbeitsgericht Köln, seien Arbeitgeber auch bereits ab Beginn des Arbeitsverhältnisses und nicht erst nach Ablauf der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG von sechs Monaten verpflichtet, ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Dies ergebe die unionsrechtskonforme Auslegung der Norm. Der Verpflichtung zur Sicherung des Rechts Schwerbehinderter auf Arbeit und Zugang zur Beschäftigung, die aus Art. 5 EGRL 78/2000 und Art. 27 Abs. 1 Satz 2 lit. a VN-BRK folgt, könne nur so genügt werden. Die Richtlinie gebiete, angemessene Vorkehrungen zum Zugang zu Beschäftigung und Sicherung der Berufsausübung zu treffen. Es lasse sich weder aus dem Wortlaut des § 167 Abs. 1 SGB IX noch aus dem Sinn und Zweck der Richtlinie EGRL 78/2000 herleiten, dass Verpflichtungen des Arbeitgebers erst mit Absolvierung einer Probezeit oder mit Erlangung von Kündigungsschutz bestünden (vgl. EuGH, Urteil vom 10.02.2022 – C-485/20 (HR Rail)). Nach der Gesetzesbegründung sollen über das Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX mögliche Umstände, die zu einer Kündigung führen können, identifiziert und ausgeräumt werden, um das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortzusetzen. Diese Ziele würden gerade dann bestmöglich erreicht, wenn den schwerbehinderten Arbeitnehmern das ihrem Verbleib im Arbeitsverhältnis dienende Präventionsverfahren bereits ab Beginn des Arbeitsverhältnisses zugutekomme. Erst wenn die zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile denkbaren Maßnahmen identifiziert und erprobt worden seien, vermöge sich der Arbeitgeber diskriminierungsfrei ein Bild davon zu machen, ob die dauerhafte Beschäftigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers möglich und gewünscht ist oder nicht.
Die beklagte Arbeitgeberin sei deshalb verpflichtet gewesen, ggf. unter Beteiligung von Schwerbehindertenvertretung und Integrationsamt nach Maßnahmen zu forschen, die zu einem Verbleib des schwerbehinderten Klägers im Arbeitsverhältnis hätten führen können. Die Arbeitgeberin treffe eine Initiativlast, wenn es zu personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Arbeitnehmer komme. Ein entsprechendes Verlangen des schwerbehinderten Arbeitnehmers im Hinblick auf diese Maßnahmen sieht die Regelung in § 167 Abs. 1 SGB IX schon nach ihrem Wortlaut nicht vor.
Für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen ist die Beweislastregel des § 22 AGG zu beachten, sodass den Arbeitnehmer zunächst nur die Darlegungs- und Beweislast von Diskriminierungsindizien trifft, im vorliegenden Fall der Verstoß des Arbeitgebers gegen die aus § 167 Abs. 1 SGB IX resultierenden Pflichten. Der Arbeitgeber muss dann Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere Gründe als die (Schwer-)Behinderung zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben, was im Einzelfall sehr schwierig sein kann.
Das Fazit
Es bleibt abzuwarten, ob das LAG Köln, bei dem der Rechtsstreit in der Berufungsinstanz unter dem Aktenzeichen 6 Sa 76/24 anhängig ist, dem Arbeitsgericht Köln in seiner Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des BAG, wonach der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, ein Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX innerhalb der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG durchzuführen, folgen wird oder nicht.
Arbeitgeber sollten auch berücksichtigen, dass eine Benachteiligung schwerbehinderter Arbeitnehmer wegen ihrer Behinderung nicht nur zur Unwirksamkeit der Probezeitkündigung führen, sondern zusätzlich auch einen Entschädigungsanspruch des Arbeitnehmers nach § 15 Abs. 2 AGG gegenüber dem Arbeitgeber begründen kann.
Bis es zu einer finalen Entscheidung gekommen ist, bleibt es Arbeitgebern bei Kenntnis von der Schwerbehinderung oder Gleichstellung eines Arbeitnehmers angeraten, bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten, die zur Gefährdung des Arbeitsverhältnisses führen können, auch während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG von sechs Monaten ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX zumindest einzuleiten. Hierzu gehört auch, die Schwerbehindertenvertretung, den Betriebs- oder Personalrat und das Integrationsamt möglichst frühzeitig einzuschalten, um nach Maßnahmen zu suchen, die den Verbleib im Arbeitsverhältnis gewährleisten könnten. Das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX muss nicht bis zum Ende der sechsmonatigen Wartezeit vor Ausspruch der Probezeitkündigung abgeschlossen werden. Auch nach Auffassung des Arbeitsgerichtes Köln besteht die Kündigungsmöglichkeit in der Probezeit ohne das Erfordernis der sozialen Rechtfertigung auch bei nur begonnenem Präventionsverfahren (eine behinderungsbedingte Benachteiligung ist dann gerade nicht durch eine Verletzung der Pflichten nach § 167 Abs. 1 SGB IX indiziert).
Hinzu kommt, dass nicht allen Arbeitgebern bekannt sein dürfte, dass die in § 167 Abs. 1 SGB IX angesprochenen „finanziellen Hilfen des Integrationsamtes“ auch als direkte Geldleistungen an Arbeitgeber eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Arbeitnehmers erfolgen können, etwa als Beschäftigungssicherungszuschuss zu den Lohnkosten oder für personelle Unterstützung anderer Mitarbeiter. Ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX kann daher auch für Arbeitgeber die Chance bieten, die im begonnenen Präventionsverfahren gewonnenen Erkenntnisse – einschließlich möglicher finanzieller Leistungen des Integrationsamtes – bei der Erwägung einer Kündigung mitberücksichtigen zu können. Dies gilt insbesondere in Zeiten von Fach- und Arbeitskräftemangel. Sollte die Zeit bis zum Ablauf der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG hierfür nicht ausreichen, haben Arbeitgeber die Möglichkeit einer Verlängerung der Einarbeitungs- und Erprobungsphase im Wege einer Erprobungsbefristung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 TzBfG, ohne dabei ein dauerhaftes Bindungsrisiko einzugehen. Nach der Rechtsprechung des BAG darf eine längere Probezeit über eine solche Erprobungsbefristung vereinbart werden, ggf. durch nachträglich befristete Verlängerung der Probezeit, wenn die Eignung und Leistung eines Arbeitnehmers wegen krankheitsbedingter Leistungsdefizite oder besonderer Anforderungen des Arbeitsplatzes innerhalb von sechs Monaten nicht genügend zu beurteilen ist.
Das Präventionsverfahren kann zudem durch Abschluss von Inklusionsvereinbarungen im Sinne von § 166 SGB IX ausgestaltet und auch schon in der Wartefrist des § 1 Abs. 1 KSchG einem geregelten Verfahrensablauf zugeführt werden.
Bettina Schmidt
Rechtsanwältin | Of Counsel
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