Europäischer Gerichtshof kritisiert deutsche Umsetzung der Elektrizitäts- und Gasbinnenmarktrichtlinie und stärkt Bundesnetzagentur

Die Europäische Kommission (nachfolgend „Kommission“) strengte 2018 eine Vertragsverletzungsklage gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (Rs. C-718/18) an. Nach Ansicht der Kommission hat die Bundesregierung bei der Umsetzung der Richtlinien 2009/72/EG (nachfolgend: „Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie“) und 2009/73/EG (nachfolgend: „Gasbinnenmarktrichtlinie“) in nationales Recht europarechtliche Vorgaben verletzt.

Die Elektrizitäts- und die Gasbinnenmarktrichtlinie (nachfolgend zusammen: „Energiebinnenmarktrichtlinien“) zielen darauf ab, den Verbrauchern und sonstigen Marktteilnehmern in der Europäischen Union freien Zugang zu den Märkten für Elektrizität und Erdgas zu gewährleisten und eine Wahlfreiheit für Energielieferanten zu ermöglichen. Kernelement beider Richtlinien zur Erreichung dieser Ziele sind Regelungen zur sog. Entflechtung integrierter Energieversorgungsunternehmen. Diese Unternehmen bieten von der Erzeugung über den Transport und die Versorgung von Endkunden sämtliche energiewirtschaftlichen Dienstleistungen an. Die Entflechtungsregelungen der Binnenmarktrichtlinien führten zu einer Trennung des Betriebs von (Elektrizitäts-)Übertragungsnetzen und (Gas-)Fernleitungsnetzen von den Tätigkeiten Erzeugung, Versorgung und Handel mit Energie. Die Einhaltung der europarechtlichen Bestimmungen wird auf nationaler Ebene durch Regulierungsbehörden gewährleistet. In Deutschland fungiert die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen als Regulierungsbehörde im Sinne der Energiebinnenmarktrichtlinien. Nach Vorgabe der Richtlinien agieren die nationalem Regulierungsbehörden unabhängig, unparteiisch und transparent.

Mit dem Urteil vom 2. September 2021 hat der Gerichtshof der unter dem Aktenzeichen C -718/18 geführten Vertragsverletzungsklage der Kommission in vollem Umfang stattgegeben.

Entscheidungsinhalt

Die Kommission hat in ihrer Klage vier Rügen gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben. Sie hat zunächst gerügt, dass der deutsche Gesetzgeber den Begriff „vertikal integriertes Energieversorgungsunternehmen“ (nachfolgend: „viU“) nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt habe. Das deutsche Recht beschränkt den Begriff „viU“ auf in der Europäischen Union tätige Unternehmen. Die Kommission kritisierte daran, dass diese Beschränkung vom Richtlinienrecht nicht vorgesehen sei. Diese Kritik teilt der Gerichtshof. In ihrer Entscheidung hat die 4. Kammer des Gerichtshofs klargestellt, dass der in den Energiebinnenmarktrichtlinien verwendete Begriff „viU“ keine räumliche Beschränkung vorsieht und vor allem im Lichte wirksamer Entflechtung auszulegen sei. Nur so lasse sich die Gefahr einer Diskriminierung in Bezug auf den Netzzugang ausschließen. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die gesellschaftsrechtliche Verbindung eines in der Europäischen Union ansässigen entflochtenen Übertragungs- bzw. Fernleitungsnetzbetreibers (nachfolgend gemeinsam „Transportnetzbetreiber“) mit einem außerhalb der Union ansässigen Energieversorgungsunternehmen, das Tätigkeiten in den Bereichen Erzeugung und/oder Lieferung von Energie ausübt, zu Interessenkonflikten führen kann. Die weite Auslegung des Begriffs „viU“ unterbinde solche Konflikte, weil von diesem Begriff auch Tätigkeiten erfasst werden, die außerhalb des Unionsgebiets ausgeübt werden. Eine Ausdehnung der Regelungsbefugnis der Union gehe damit nicht einher. Die seitens der Bundesrepublik Deutschland vorgenommene enge Auslegung des Begriffs „viU“ stehe deshalb nicht im Einklang mit den Zielen der Richtlinienbestimmungen.

In der zweiten Rüge bemängelte die Kommission, dass das deutsche Recht die Bestimmungen der Energiebinnenmarktrichtlinien über die im Fall eines Personalwechsels vom viU zum Transportnetzbetreiber geltenden Sperrfristen zu Unrecht auf diejenigen Teile des viU beschränkt, die ihre Tätigkeiten im Energiebereich ausüben. Der Gerichtshof hat bekräftigt, dass die diesbezüglichen Richtlinienbestimmungen keine derartigen Beschränkungen enthalten und dass eine solche Beschränkung einer wirksamen Entflechtung zuwiderlaufe. Aus den Richtlinienbestimmungen folge vielmehr, dass die Sperrfristen für alle Führungskräfte bzw. Personen der Unternehmensleitung und/oder die Mitglieder der Verwaltungsorgane von Transportnetzbetreibern gelten, die vor ihrer Einstellung beim Transportnetzbetreiber eine Tätigkeit innerhalb des viU oder bei einem Mehrheitsanteilseigner eines der Unternehmen des viU ausgeübt haben. Dabei komme es nicht darauf an, ob diese Tätigkeiten im Energiesektor oder einem anderen Sektor des viU oder bei einem Mehrheitsanteilseigner eines der Unternehmen im Energiesektor des viU ausgeübt wurden.

Mit der dritten Rüge kritisierte die Kommission, dass das deutsche Recht entgegen der Intention der Energiebinnenmarktrichtlinien zulasse, dass Beschäftigte von Transportnetzbetreibern Beteiligungen an Unternehmensteilen des viU, die vor dem 3. März 2012 erworben wurden, hielten. Auch diese Kritik teilt der Gerichtshof. Die erkennende Kammer spricht sich dafür aus, dass Beschäftigte von Transportnetzbetreibern genauso wie Personen der Unternehmensleitung von Transportnetzbetreibern solche Anteile veräußern müssen. Denn das Halten solcher Unternehmensanteile begründe die Gefahr, dass Beschäftigte von Transportnetzbetreibern, auch wenn sie nicht an unternehmerischen Entscheidungen des Transportnetzbetreibers mitwirken, aufgrund der von ihnen gehaltenen Unternehmensanteile des viU möglicherweise bei der Ausübung ihrer Tätigkeit vom viU eingenommen und daher nicht unabhängig seien.

Die vierte Rüge der Kommission enthält einen anders gearteten Vorwurf und richtet sich gegen die Ausgestaltung des in Deutschland verordnungsrechtlich geprägten Netzentgelt- und Netzzugangssystems. Das Energiewirtschaftsgesetz regelt die Grundsätze dieser Rechtsgebiete und weist der Bundesregierung zur Ausgestaltung dieser Grundsätze eine Verordnungsermächtigung zu. Dieser Regelungsansatz verstößt aus Sicht des Gerichtshofs gegen die Vorgaben der Energiebinnenmarktrichtlinien. Die Richtlinien sehen vor, dass ausschließlich die nationalen Regulierungsbehörden für die Ausgestaltung von Netzentgelt- und Netzzugangsregelungen verantwortlich sind und dabei zuvorderst die bestehenden diesbezüglichen Rechtssetzungsakte der Union beachten müssen. Dies stelle nach Ansicht der erkennenden Kammer keine Missachtung des Demokratieprinzips dar. Denn das die nationalen Regulierungsbehörden prioritär bindende europäische Recht sei ebenfalls in einem demokratischen Gesetzgebungsverfahren entstanden. Zudem werde es einer nationalen Regulierungsbehörde nicht allein deshalb an demokratischer Legitimation fehlen, weil sie in Bezug auf die Ausgestaltung europarechtlicher Regelungen zur Netzentgelt- und Netzzugangsregulierung weitgehend unabhängig von der Bundesregierung operiere. Insoweit betont der Gerichtshof, dass die der Bundesnetzagentur danach vorbehaltenen exklusiven Zuständigkeiten als Durchführungskompetenzen zu beurteilen seien, die auf technisch-fachlichen Beurteilungen beruhen, und ihr keine Wertungsspielräume einräumen. Entscheidungen politischer Art seien deshalb nicht zu befürchten.

Erste Einordnung der Entscheidung

Die Mehrzahl der in Deutschland tätigen Transportnetzbetreiber ist über gesellschaftsrechtliche Beteiligungen innerhalb eines Konzerns mit einem viU verbunden. Die für diese Unternehmen geltenden Entflechtungsvorschriften des Energiewirtschaftsgesetzes gelten seit nunmehr rund zehn Jahren. In dieser Zeit haben sowohl die viU als auch besonders die Transportnetzbetreiber große Anstrengungen unternommen, gegenüber der Bundesnetzagentur die Einhaltung der verschärften Entflechtungsregeln in den §§ 10 ff. EnWG nachzuweisen. Dies hat die Regulierungsbehörde anerkannt und jedem einzelnen deutschen Transportnetzbetreiber eine Zertifizierung über die erfolgte Entflechtung vom viU erteilt. Dies ging nicht immer lautlos vonstatten. Einzelfragen zur Auslegung der §§ 10 ff. EnWG mussten vom Bundesgerichtshof geklärt werden.

Mit seinem Urteilsspruch vom 2. September 2021 hat der Gerichtshof der Europäischen Union festgestellt, dass einige der seit Jahren bekannten Entflechtungsregeln des deutschen Rechts mit dem höherrangigen Richtlinienrecht unvereinbar sind. Dies stellt die deutschen Regelungen auf den Prüfstand und wird die davon betroffenen viU und Transportnetzbetreiber voraussichtlich unter Veränderungsdruck stellen. Deutlich wird das schon durch die Forderung des Gerichtshofs, dass künftige Entflechtungsregelungen in Deutschland keinerlei vor dem 3. März 2012 erworbenen Unternehmensbeteiligungen von Mitarbeitern des Transportnetzbetreibers an konzernzugehörigen viU mehr zulassen sollen. Die vom Gerichtshof kritisierten nationalen Regelungen bleiben trotz des Urteils vom 2. September 2021 wirksam. Die für den Vollzug dieser Regelungen zuständige Bundesnetzagentur muss sie bei deren Anwendung jedoch unionrechtskonform auslegen. Zudem ist damit zu rechnen, dass der deutsche Gesetzgeber die urteilsgegenständlichen nationalen Regelungen unionsrechtskonform verändern wird. Was das in der Praxis bedeutet und welche Konsequenzen die betroffenen Unternehmen daraus ziehen, lässt sich indes schwer absehen. Ignorieren werden die betroffenen Unternehmen die Entscheidung des Gerichtshofs jedoch nicht können.

Ein Paukenschlag ist unzweifelhaft das Votum des Gerichtshofs, dass die deutsche Ausgestaltung des Netzentgelt- und Netzzugangsregimes europarechtswidrig ist und die Bundesnetzagentur diese Rechtsgebiete nach alleinigem Ermessen – freilich gebunden durch Unionsrecht – ausgestalten soll. Die Umsetzung des Energiebinnenmarkts in Deutschland hat sich in den vergangenen zehn Jahren wesentlich nach diesen Vorschriften vollzogen. Zahlreiche Streitfragen zur Auslegung der Anreizregulierungsverordnung sowie zu den Netzentgelt- und Netzzugangsverordnungen wurden obergerichtlich und höchstrichterlich entschieden. Dies schuf einen für alle Marktteilnehmer praktikablen und einschätzbaren Rechtsrahmen. An der Vereinbarkeit dieses Rechtsrahmens mit den Vorgaben der Energiebinnenmarktrichtlinien äußerte die Kommission seit 2014 zwar immer wieder und sehr deutlich Zweifel. Gleichwohl dürfte die Mehrzahl der Beobachter des deutschen Energiewirtschaftsrechts, einschließlich vielleicht der Bundesnetzagentur, diesen Rechtsrahmen bis zur Entscheidung vom 2. September 2021 für europarechtlich belastbar gehalten haben. Es gilt nun zu beobachten, wie die Regulierungsbehörde die ihr vom Gerichtshof der Europäischen Union zugedachte Rolle zukünftig ausfüllen wird. Von Interesse ist ebenfalls, wie der deutsche Gesetzgeber sich zum Urteil des Gerichtshofs verhält. Das Gleichgewicht zwischen gesetzgeberischer Umsetzung der Energiebinnenmarktrichtlinien und deren administrativer Durchsetzung seitens der Bundesnetzagentur wird sich sicherlich neu tarieren. Dies ist auch erforderlich, weil die gesamteuropäische Energiewirtschaft aufgrund der Energiewende vor zahlreichen aktuellen Herausforderungen steht, die ein möglichst reibungsloses Zusammenspiel von europäischem und nationalem Gesetzgeber sowie der Kommission und den nationalen Regulierungsbehörden erfordert. Zu nennen ist insoweit neben vielen anderen Themen der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft.

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Sebastian Hoppe, LL.M. (AMU)

Sebastian Hoppe, LL.M. (AMU)

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