EuGH entscheidet, dass „Kaskadenverweisungen“ in Widerrufsinformationen unwirksam sind. Aber: Führt das auch zur automatischen Widerruflichkeit entsprechender Verbraucherdarlehensverträge im innerdeutschen Recht?

Mit Urteil vom 26.03.2020 - Rs. C-66/19 - hat der Europäische Gerichtshof auf ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV entschieden, dass Art. 10 Abs. 2 lit. p der Richtlinie 2008/48 (im Folgenden Richtlinie 2008/48 EG) einer Regelung in Widerrufsinformationen zu Verbraucherdarlehensverträgen dann entgegenstehe und auch dementsprechend auszulegen sei, wenn diese Regelung hinsichtlich der in Art. 10 dieser Richtlinie genannten und geforderten Angaben auf eine nationale Vorschrift verweise, die selbst auf weitere Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats Bezug nehme (sog. „Kaskadenverweisung“). Damit stellt der EuGH auch gleichzeitig klar, dass der seit 30.07.2010 im deutschen Belehrungsmuster nach Anlage 6 EGBGB (ab 13.06.2014: Anlage 7 EGBGB) verankerte sog. „Kaskadenverweis“ den Anforderungen der Verbraucherkreditrichtlinie (Art. 10 Abs. 2 lit. p der Richtlinie 2008/48/EG) nicht gerecht wird. Dieses Urteil haben einige Medien und Verbraucheranwälte aufgegriffen und sprechen bereits plakativ vom neuen „Widerrufsjoker“. Aber trifft diese Einschätzung tatsächlich zu?

Sachverhalt

Das LG Saarbrücken legte mit Beschluss vom 17.01.2019 – Az. 1 O 164/18 – dem Europäischen Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob der im Muster nach Anlage 6 EGBGB a. F. enthaltene „Kaskadenverweis“ zum Fristbeginn mit der Verbraucherkreditrichtlinie (Richtlinie 2008/48/EG) vereinbar sei und welche Auswirkungen eine etwaige Unvereinbarkeit auf Verbraucherdarlehensverträge habe.

Entscheidungsinhalt

Der EuGH nahm diese Vorlagefragen zum Anlass, grundlegende Ausführungen zur Anwendbarkeit der Verbraucherkreditlinie zu machen, weil das streitgegenständliche Darlehen als Immobiliardarlehen dem Grunde nach nicht der Verbraucherkreditrichtlinie unterfällt (Art. 2 Abs. 2 lit. a der Richtlinie). Der EuGH gibt aber mit Verweis auf bereits ergangene ältere Rechtsprechung zu verstehen, dass er auch dann zur Entscheidung berufen sei, wenn nationales Recht zwar nicht unmittelbar von einem Unionsrechtsakt erfasst sei, es sich aber nach den in diesem Rechtsakt getroffenen Regelungen ausgerichtet habe. Nachdem der deutsche Gesetzgeber die Vorschriften der Verbraucherkreditrichtlinie auch für Immobiliardarlehen umgesetzt habe, sei der EuGH zur Entscheidung befugt.

In der Sache selbst urteilte der EuGH, dass Art. 10 Abs. 2 lit. p der Verbraucherkreditrichtlinie dahin zu verstehen sei, dass ein Verbraucherdarlehensvertrag die nach Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie maßgeblichen Modalitäten für den Fristbeginn in klarer und prägnanter Form enthalten müsse. Dabei dürfe die Widerrufsinformation nicht so ausgestaltet sein, dass die für den Fristbeginn erforderlichen Angaben auf eine nationale Rechtsvorschrift verweisen, welche wiederum auf weitere nationale Rechtsvorschriften Bezug nehme, wie es aber der sog. „Kaskadenverweis“ im deutschen Belehrungsmuster praktiziere.

Entgegenstehende Rechtsprechung des BGH

Vor der nun ergangenen Entscheidung des EuGH hatte sich bereits der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 19.03.2019, Az. XI ZR 44/18 (hier Randnummer 17.) mit den Vorlagefragen des LG Saarbrücken auseinandergesetzt und die Auffassung vertreten, dass die Verbraucherkreditrichtlinie auf Immobiliardarlehen keine Anwendung finde. In diesem Zusammenhang stellte der BGH auch klar, dass das deutsche Recht selbst bei einer gegenteiligen Auffassung des EuGH nicht contra legem richtlinienkonform dahingehend ausgelegt werden könne, dass der durch den deutschen Gesetzgeber selbst im Belehrungsmuster ausdrücklich implementierte „Kaskadenverweis“ nach Anlage 6 EGBGB (ab 13.06.2014: Anlage 7 EGBGB) als unwirksam anzusehen sei.

Zusammenfassung und Ausblick

Der EuGH hat eine eindeutige Auffassung zur Wirksamkeit einer Widerrufsinformation mit Kaskadenverweisung abgegeben. Eine innerdeutsche gerichtliche Entscheidung in Umsetzung des EuGH-Urteils und gegen den eindeutigen Willen des Gesetzgebers, welcher sein Verständnis von der Belehrung über den Fristbeginn in Anlage 6 EGBGB a. F. mit Kaskadenverweisungen explizit darlegte und umsetze, dürfte aber bereits wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatprinzip unzulässig sein. Die Beachtung des klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers ist Ausdruck demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Dies trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) Rechnung. Das Gesetz bezieht seine Geltungskraft aus der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers, dessen artikulierter Wille den Inhalt des Gesetzes daher mitbestimmt. Der klar erkennbare und explizit artikulierte Wille des Gesetzgebers darf nicht übergangen oder verfälscht werden. So verwirklicht sich die in Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG vorgegebene Bindung der Gerichte an das Gesetz, denn dies ist eine Bindung an die im Normtext zum Ausdruck gebrachte demokratische Entscheidung des Gesetzgebers. Eine andere, richtlinienkonforme Auslegung deutscher Gerichte dürfte ebenfalls nicht in Betracht kommen. Diese ist nur dann möglich, wenn die Bestimmungen des nationalen Rechts überhaupt Auslegungsspielräume eröffnen. Das deutsche Belehrungsmuster in der Anlage 6 EGBGB a. F. (ab 13.06.2014: Anlage 7 EGBGB) ist jedoch eindeutig und abschließend. Eine Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung darf aber nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen. Denkbar wären allein etwaige Staatshaftungsansprüche wegen fehlerhafter Umsetzung der Richtlinie. Der BGH wird sich in naher Zukunft sicherlich noch einmal mit dieser Rechtsfrage beschäftigen müssen. Es bleibt abzuwarten, ob der BGH – wovon auszugehen sein dürfte – an seiner älteren Senatsrechtsprechung festhält. Aber selbst wenn der BGH seine Rechtsprechung ändern und einen Widerruf auf Grund des Kaskadenverweises nunmehr zukünftig als wirksam erachten sollte, wären Verwirkungs- und Rechtsmissbrauchsgesichtspunkte bezogen auf einen etwaigen Widerruf zu prüfen, deren Geltung auch in Ansehung der EuGH-Rechtsprechung unzweifelhaft sind. Es ist nun aber zunächst am Gesetzgeber, das deutsche Belehrungsmuster für die Zukunft unionsrechtskonform zu gestalten.

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Paul H. Assies

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Dr. Maik Kirchner

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