BGH zur Offenkundigkeit durch Lieferung und Inbetriebnahme einer erfindungsgemäßen Anlage

Die Annahme einer offenkundigen Vorbenutzung durch die Lieferung, Installation und Inbetriebnahme einer erfindungsgemäßen Anlage setzt nach der Entscheidung „Konditionierverfahren“ des BGH eine hinreichende Wahrscheinlichkeit voraus, dass beliebige Dritte die Anlage untersuchen und dadurch Kenntnis von einer Erfindung erhalten (BGH, Urteil vom 21.04.2020, Az. X ZR 75/18).

Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört. Den Stand der Technik bildet alles, was vor dem Anmeldetag der Patentanmeldung der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist (vgl. § 3 PatG, Art. 54 EPÜ).

Nach der Rechtsprechung des BGH ist eine Vorbenutzung „offenkundig“ in diesem Sinne, wenn die nicht nur theoretische und nicht nur entfernt liegende Möglichkeit eröffnet ist, dass beliebige Dritte, und damit auch Fachkundige, zuverlässige und ausreichende Kenntnis von der Erfindung erlangen. Vom Vorliegen dieser Voraussetzungen kann nach der Lebenserfahrung auszugehen sein, wenn eine erfindungsgemäße Vorrichtung einem Dritten angeboten oder geliefert worden ist.

Im Streitfall hatte die Patentinhaberin vor dem Anmeldetag (Prioritätstag) mindestens eine erfindungsgemäße Anlage an eine Abnehmerin geliefert, ohne dass mit dieser ausdrücklich oder konkludent eine Geheimhaltungsvereinbarung getroffen worden ist. Das BPatG erklärte das Streitpatent für nichtig, weil der Gegenstand infolge dieser Lieferung offenkundig vorbenutzt sei.

Demgegenüber kam der BGH zu dem Ergebnis, dass die Feststellungen des BPatG nicht die Schlussfolgerung tragen, dass der Gegenstand des Streitpatents der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag zugänglich gewesen ist, und wies die Klage ab. Angebot oder Lieferung einer erfindungsgemäßen Vorrichtung führen selbst dann nicht ohne weiteres zur Offenkundigkeit, wenn der Abnehmer keiner Geheimhaltungspflicht unterliegt. Wenn eine Geheimhaltungspflicht nicht vereinbart worden ist und eine Geheimhaltung auch sonst nicht zu erwarten ist, ist zwar in der Regel davon auszugehen, dass mit der Lieferung die Kenntnis von der Erfindung der Öffentlichkeit preisgegeben und die jedenfalls nicht fernliegende Möglichkeit geschaffen worden ist, dass beliebige Dritte von ihr Kenntnis nehmen können. Auch in solchen Situationen reicht eine nur theoretische oder entfernt liegende Möglichkeit der Kenntnisnahme aber nicht aus.

Amtlicher Leitsatz:

Lieferung, Installation und Inbetriebnahme einer Anlage bei einer Käuferin begründen nicht ohne weiteres eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass beliebige Dritte die Anlage untersuchen und dadurch Kenntnis von einer Erfindung erhalten.

BGH, Urteil vom 21.04.2020, Az. X ZR 75/18

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Franziska Anneken

Franziska Anneken

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