BGH – Testosteronester, Erfolgserwartung und Naheliegen einer Erfindung

In einem Urteil vom 08.10.2024 (Az. X ZR 77/23) hat sich der BGH im Rahmen eines Nichtigkeitsverfahren mit der Frage der erfinderischen Tätigkeit befasst.

Nach Art. 56 EPÜ und § 4 PatG gilt eine Erfindung als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Das Naheliegen eine Erfindung bedarf zur Rechtfertigung der Patentversagung daher einer konkreten Begründung ausgehend von Entgegenhaltungen aus dem Stand der Technik, ggf. ergänzt durch das allgemeine dem Durchschnittsfachmann zugeordnete Fachwissen.

Der BGH hatte über eine Nichtigkeitsklage gegen den deutschen Teil eines Europäischen Patents zu entscheiden, das das zuverlässige Erreichen eines günstigen Serumtestosteronspiegels betraf, indem (verkürzt dargestellt) ein bestimmter Testosteronester formuliert mit einem Vehikel in Form eines Rizinusöls in einer Konzentration von 25-45 Vol.-% und mit einem Hilfslösungsmittel intramuskulär eingespritzt wird. Die gewählte Formulierung sollte insbesondere einen starken Depoteffekt und die Vergrößerung des zeitlichen Abstands zwischen wiederholten Spritzen bewirken.

Entscheidend für die Patentfähigkeit war für den BGH am Ende nur noch die Frage, ob der maßgebliche Durchschnittsfachmann ausgehend von dem Stand der Technik die optimale und vom Patent beanspruchte Konzentration des Rizinusöls ausgetestet hätte.

Leitsatz der Entscheidung

Die Anforderungen an eine angemessene Erfolgserwartung lassen sich nicht allgemeingültig formulieren. Sie sind jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung des in Rede stehenden Fachgebiets, der Größe des Anreizes für den Fachmann, des erforderlichen Aufwands für das Beschreiten und Verfolgen eines bestimmten Ansatzes und der gegebenenfalls in Betracht kommenden Alternativen sowie ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile zu bestimmen (Bestätigung von BGH, Urteil vom 16. April 2019 – X ZR 59/17, GRUR 2019, 1032 Rn. 31 – Fulvestrant; Urteil vom 7. Juli 2020 – X ZR 150/18, GRUR 2020, 1178 Rn. 108 – Pemetrexed II; Urteil vom 26. Januar 2021 – X ZR 24/19, GRUR 2021, 696 Rn. 51 – Phytase).

Nach Auffassung des BGH bestand (entgegen der Auffassung des Bundespatentgerichts in der Vorinstanz) bei der Ausgangslage, wie sie sich nach dem Stand der Technik darstellte, kein hinreichender Anlass, parallele klinische Versuche mit Mischungsverhältnissen durchzuführen, die in Richtung der Erfindung gingen. Um hinreichend sichere Erkenntnisse zu erlangen, waren Langzeitversuche erforderlich, wie sie in der nächstkommenden Entgegenhaltung beschrieben waren. Nach Auffassung des BGH stand der dafür erforderliche Aufwand an Zeit und finanziellen Mitteln nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem zu erwartenden Erfolg.

Die Abgrenzung eines Naheliegens nach dem Zeit- und Kostenaufwand für orientierende Versuche ist jedoch fraglich. Denn Maßstab bleibt nach wie vor eine erfinderische Tätigkeit und kein Fleiß oder wirtschaftlicher Aufwand. Sobald eine (sei es geringe) Erfolgserwartung anzunehmen ist, muss dem Fachmann auch eine Bereitschaft unterstellt werden, unabhängig von Kosten und Aufwand alle möglichen Screenings durchzuführen.

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Dr. Martin Quodbach, LL.M.

Dr. Martin Quodbach, LL.M.

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