Neue Freistellung vom Vergaberecht im Energiesektor

Mit Beschluss vom 15. September 2016 (2016/1674) hat die Europäische Kommission öffentliche Aufträge, die den Vertrieb von Strom und Gas an Letztverbraucher in Deutschland betreffen, in weiten Teilen von der Anwendung des EU-Vergaberechts freigestellt.

Auslöser für die Entscheidung war ein Antrag gemäß Art. 35 der Richtlinie 2014/25/EU bzw. § 3 SektVO, den der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) mit Unterstützung des Bundeskartellamtes gestellt hatte. Danach können Auftraggeber bei der Kommission beantragen, festzustellen, dass das Vergaberecht auf bestimmte Tätigkeiten in einem Mitgliedsstaat keine Anwendung findet. Voraussetzung ist, dass die entsprechende Tätigkeit in dem Mitgliedstaat unmittelbar dem Wettbewerb auf Märkten ausgesetzt ist und diese Märkte keiner Zugangsbeschränkung unterliegen.

Diese Voraussetzungen liegen nach Ansicht der Kommission in Bezug auf den deutschen Strom- und Gas-Einzelhandel vor; bei der Belieferung von Haushalts-/Gewerbe- und Industriekunden mit Gas und Strom herrscht ein ausreichender Wettbewerb. Nachdem der BDEW 2012 bereits die Freistellung für alle Aufträge erreicht hatte, die die Erzeugung und den Erstabsatz von aus konventionellen Quellen erzeugtem Strom in Deutschland betreffen, stellte die Kommission öffentliche Auftraggeber in der Energiewirtschaft damit jetzt in einem weiteren Bereich vom Vergaberecht frei.

Im Einzelnen bedeutet dies, dass in Zukunft solche Beschaffungsvorgänge nicht mehr dem EU-Vergaberecht unterliegen, die einen der folgenden Bereiche betreffen:

•    Stromeinzelhandel mit RLM bzw. SLP-Kunden (= Kunden, deren Verbrauch durch Leistungsmessung erfasst oder aufgrund eines Standardlastprofils abgerechnet wird)

•    Erdgaseinzelhandel mit RLM- und SLP-Kunden

Nicht erfasst sind dagegen Aufträge im Zusammenhang mit der Grundversorgung und mit Heizstrom.

Die Freistellung umfasst damit eine große Bandbreite an Beschaffungsaufträgen, die dem Vertrieb von Strom und Gas an Letztverbraucher dienen sollen. Dies können beispielsweise Abrechnungsdienstleistungen oder Callcenter-Leistungen sein, aber auch der Bau eines Kundenservice-Gebäudes oder Leistungen von Unternehmensberatern, Wirtschaftsprüfern und Agenturen im Bereich Werbung/Design/Social Media etc.

Vorsicht ist in der Praxis allerdings bei gemischten Aufträgen geboten. Betrifft ein Auftrag sowohl vertriebsbezogene Tätigkeiten als auch nicht vertriebsbezogene Tätigkeiten, ist der Hauptgegenstand des Auftrags maßgebend. Liegt dieser im freigestellten Bereich, ist er also vertriebsbezogen und betrifft weder die Grundversorgung noch den Heizstrommarkt, findet das Vergaberecht keine Anwendung. Lässt sich dagegen nicht objektiv feststellen, welche Tätigkeit Hauptgegenstand des Auftrags ist, bleibt es bei der Pflicht zur Beachtung des EU-Vergaberechts.

Zudem sollte auch bei freigestellten Aufträgen nach wie vor geprüft werden, ob möglicherweise aufgrund von Binnenmarktrelevanz eine transparente, diskriminierungsfreie Beschaffung erforderlich ist.

Quellen:

–    Durchführungsbeschluss (EU) 2016/1674 der Kommission vom 15. September 2016

–    Pressemitteilung des BDEW vom 19. September 2016

Autorin:
Rechtsanwältin Lara Itschert
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