COVID-19 Update: Corona-Pandemie als Aufhebungsgrund?

Im Zuge der Corona-Pandemie hat die Bundesregierung zu Beginn des Jahres 2020 eine Reihe von Erlassen und Rundschreiben veröffentlicht, die zum einen Klarheit zum Umgang mit den durch die COVID-19-Pandemie auftretenden vergaberechtlichen Fragen liefern und zum anderen die Durchführung von Vergabeverfahren für öffentliche Auftraggeber vereinfachen sollten.

Obwohl viele der vergaberechtlich relevanten Szenarien in den Erlassen und Rundschreiben besprochen wurden, fanden öffentliche Auftraggeber darin keine Klarstellung, wie die Aufhebungsvorschriften des § 63 Abs. 1 VgV bzw. § 48 Abs. 1 UVgO bei einer coronabedingten Änderung des Beschaffungsbedarfs anzuwenden sind.

Mit dem derzeitigen Lockdown „light“ stehen viele öffentliche Auftraggeber nunmehr erneut vor dem Problem, dass sich ihre ursprüngliche Beschaffungsabsicht aufgrund des partiellen Herunterfahrens der Wirtschaft verändert hat.

In diesem Zusammenhang gewinnt eine Entscheidung der VK Bund aus dem Monat Mai dieses Jahrs (Beschl. v. 06.05.2020 – VK 1-32/20) erneut an Bedeutung. Dort hatte die VK Bund in Bezug auf den erstmaligen coronabedingten Lockdown entschieden, dass die Auswirkungen der Corona-Pandemie im Einzelfall dazu führen können, dass sich die Grundlage des Verfahrens derart wesentlich ändert, dass eine Aufhebung gerechtfertigt sein kann.

Sachverhalt

Die Vergabestelle hatte mit Bekanntmachung vom 17.01.2020 ein europaweites, offenes Verfahren zur Vergabe von Arbeitsmarktmaßnahmen zur individuellen Förderung von Nachwuchskräften eingeleitet. Maßnahmenbeginn sollte der 04.05.2020 sein. Nachdem dem Bestbieter im März 2020 zunächst mitgeteilt wurde, dass sein Angebot nach dem derzeitigen Stand des Verfahrens angenommen werde, beschloss die Vergabestelle infolge der pandemischen Entwicklung des neuartigen Corona-Virus das Vergabeverfahren aufzuheben. Als Begründung für die Aufhebung verwies die Vergabestelle auf die durch die Ausbreitung des Corona-Virus grundlegend veränderten Bedingungen am Arbeitsmarkt. Der Erstplatzierte rügte daraufhin die Aufhebung als rechtswidrig und leitete ein Nachprüfungsverfahren mit dem Ziel der Fortsetzung des Vergabeverfahrens und der Erteilung des Zuschlags an ihn ein.

Die Entscheidung der VK Bund

Ohne Erfolg! Die Vergabekammer stellt zunächst fest, dass ein öffentlicher Auftraggeber unabhängig des Vorliegens eines Aufhebungsgrundes von den Nachprüfungsinstanzen nicht gegen seinen Willen verpflichtet werden kann, ein Vergabeverfahren fortzusetzen und den Zuschlag zu erteilen. Auch im Vergabeverfahren gelte der Grundsatz der Privatautonomie, nach dem der Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages ausschließlich in der Entscheidungsgewalt des Ausschreibenden liege. Schon aus diesem Grund musste der Hauptantrag erfolglos bleiben.

Die Aufhebungsentscheidung war nach dem Dafürhalten der Vergabekammer darüber hinaus auch rechtmäßig. Die VK Bund kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Aufhebungsgrund des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VgV einschlägig ist, da sich die Grundlage des Vergabeverfahrens sowohl in zeitlicher als auch in sachlicher Hinsicht wesentlich verändert habe, sodass die Vergabestelle an ihrem ursprünglichen Beschaffungsbedarf nicht mehr festhalten konnte.

In zeitlicher Hinsicht sei dabei auf wesentliche Änderungen, die nach Einleitung des Vergabeverfahrens durch die Veröffentlichung der Bekanntmachung und vor der abschließenden Zuschlagsentscheidung auftreten, abzustellen. Dazu zählte die VK Bund sowohl die akute pandemische Ausbreitung des Corona-Virus als auch die damit einhergehenden wirtschaftlichen Folgen durch Betriebsschließungen, welche erst nach der Bekanntmachung am 17. Januar 2020 eingetreten waren. Als maßgeblichen Zeitpunkt stellte die VK Bund auf den „harten“ Lockdown des öffentlichen Lebens ab dem 23.03.2020 ab und betonte zugleich, dass die zuvor übersandte Vorinformation über die beabsichtigte Zuschlagserteilung nach § 134 GWB ihrem Wesen nach noch keine abschließende Zuschlagserteilung darstelle und somit für die Beurteilung des Zeitmoments unerheblich sei.

In sachlicher Hinsicht darf die wesentliche Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens für den Auftraggeber nicht vorhersehbar und nicht von ihm selbst verschuldet sein. Wesentlich ist eine Änderung, wenn die Durchführung des Vergabeverfahrens nicht mehr möglich oder für den Auftraggeber oder die Unternehmen mit unzumutbaren und nicht mehr auffangbaren Bedingungen verbunden wäre (vgl. OLG München, Beschl. vom 4. April 2013, Verg 4/13). Die VK Bund kommt dabei richtigerweise zu dem Ergebnis, dass eine Entwicklung des Arbeitsmarktes dahingehend, dass Unternehmen kaum wissen wir sie ihre Stammbelegschaft halten können und daher die Gewinnung von Nachwuchskräften derzeit keine Priorität mehr habe, für öffentliche Auftraggeber nicht vorhersehbar war. Zudem stelle die Neuverteilung der Haushaltsmittel angesichts der akut anfallenden beträchtlichen Aufgabenverlagerungen in wichtigere Produkte für die Kunden, einen rechtmäßigen Aufhebungsgrund im Vergabeverfahren dar.

Da auch sonstige Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Vorgehensweise der Auftraggeberin in Form einer Scheinaufhebung oder einer gezielten Diskriminierung des Bestbieters nicht vorlagen, wurde die Aufhebungsentscheidung insgesamt als rechtmäßig bewertet.

Abgesehen von der rechtmäßigen Aufhebungsentscheidung war die Aufhebung an sich auch vergaberechtskonform erfolgt, da das Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde, die Gründe für die Aufhebung den Bietern unverzüglich mitgeteilt wurden und eine ausreichende Dokumentation stattgefunden hatte.

Praxistipp

Auch wenn die Entscheidung der VK Bund Klarheit zu der Frage einer vergaberechtskonformen Aufhebung eines Vergabeverfahrens in Zeiten der Corona-Pandemie gibt, darf sie nicht als Freibrief für eine rechtmäßige Aufhebung jedes Vergabeverfahrens mit der schlagwortartigen Begründung „Corona-Pandemie“ verstanden werden.

Öffentliche Auftraggeber sind vielmehr angehalten, ein Verfahren nicht vorschnell wegen Corona aufzuheben, sondern dezidiert für den Einzelfall zu prüfen, ob der ursprünglich vorgesehene Bedarf tatsächlich aufgrund der Folgen der Corona-Pandemie nicht mehr besteht und auch das „mildere Mittel“ einer Aussetzung nicht infrage kommt. Die angestellten Überlegungen und die Gründe für die Entscheidung zur Aufhebung des Vergabeverfahrens müssen dabei sorgfältig dokumentiert werden.

Zudem ist zu bedenken, dass die Entscheidung der VK Bund argumentativ vor allem darauf fußt, dass die pandemische Ausbreitung des COVID-19 Virus und die damit einhergehenden wirtschaftlichen Folgen des ersten deutschlandweiten Lockdowns für öffentliche Auftraggeber nicht vorhersehbar war. Fraglich ist jedoch, ob die Gerichte eine Aufhebung aufgrund eines nochmaligen Lockdowns ebenfalls als unvorhersehbar einstufen würden. Aufgrund der dahingehenden Ungewissheit könnte es sich für Vergabestellen anbieten zu prüfen, ob sie im Rahmen aktueller Ausschreibungen ggf. in die Vergabeunterlagen den Hinweis aufnehmen, dass sie sich im Falle eines nochmaligen Lockdowns die Aufhebung vorbehalten.

Fest steht jedenfalls, dass bei der vorschnellen Anwendung der Aufhebungsregeln Vorsicht geboten ist, da die Bieter im schlimmsten Falle Schadenersatzansprüche aufgrund einer rechtswidrigen Aufhebung geltend machen können.