Bundesverwaltungsgericht entscheidet über Zumutbarkeit von Geruchsimmissionen im Dorfgebiet

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entscheidet in seinem Urteil vom 15.09.2022 (Az. 4 C 3/21) über die rechtlichen Folgen einer Vorbelastung im faktischen Dorfgebiet.

Der Fall

Im Jahr 2009 beantragte der Kläger einen Bauvorbescheid für ein Wohnhaus mit zwei Wohnungen und zwei Garagen mit anschließendem Abstellraum. Die beklagte Gemeinde lehnte den Antrag ab. Über den Widerspruch des Klägers wurde nicht entschieden. Die Klage blieb erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht hatte die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen, das in einem faktischen Dorfgebiet geplante Vorhaben sei mit dem Rücksichtnahmegebot des § 15 Abs. 1 Satz 2, 2. Alt. BauNVO nicht vereinbar. Es setze sich unzumutbaren Geruchsimmissionen durch die landwirtschaftlichen Betriebe der Beigeladenen aus. Die als Orientierungshilfe heranzuziehende Geruchsimmissions-Richtlinie des Ministeriums für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume vom 4. September 2009 (ABl. SH S. 1006) (GIRL a. F.) sehe für Dorfgebiete einen Immissionswert von 0,15 der Jahresgeruchsstunden vor. In besonders gelagerten Ausnahmefällen könne ein Immissionswert von 0,20 überschritten werden. Das Bauvorhaben des Klägers setze sich in Bezug auf die genehmigten landwirtschaftlichen Nutzungen 0,29 der Jahresgeruchsstunden aus. Nach Auffassung des Berufungsgerichts seien jedoch Werte von mehr als 0,25 im Dorfgebiet nicht mehr zumutbar.

Hiergegen hat sich der Kläger mit seiner Revision – im Ergebnis erfolglos – gewendet.

Die Entscheidung

Im Ergebnis hielt das BVerwG die Entscheidung des OVG Schleswig-Holstein aufrecht, stellte jedoch fest, dass das Urteil gegen revisibles Bundesrecht verstoße. Das Urteil erwies sich jedoch aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig. Das BVerwG hält fest, dass ein Wohnbauvorhaben sich dann unzumutbaren Belästigungen durch landwirtschaftliche Geruchsimmissionen i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 2, 2. Alt. BauNVO aussetze, wenn die maßgeblichen Richtwerte der GIRL a. F. deutlich überschritten würden und das Vorhaben vorhandene Konflikte verschärfe oder erstmalig neue Nutzungskonflikte begründe. Das Berufungsurteil hatte noch in rechtsfehlerhafter Weise pauschal auf die erhebliche Überschreitung des Immissionswerts für Dorfgebiete von 0,15 abgestellt. Für den Vorhabenstandort hat man eine belästigungsrelevante Kenngröße von 0,29 angenommen. Das pauschale Abstellen auf eine – wenn auch erhebliche – Überschreitung der Immissionsrichtwerte genüge nicht den Anforderungen an eine umfassende Einzelfallprüfung, wie es das BVerwG vorschreibt. Erforderlich sei eine umfassende Würdigung des Einzelfalls. Zu betrachten seien vor allem die Ortsüblichkeit der Immissionen und die Siedlungsstruktur, die Nutzung des betreffenden Gebäudes, die historische Entwicklung und die besondere Ortsgebundenheit von Immissionsquellen. Etwaige Vorbelastungen, die eine schutzbedürftige Nutzung an einem Standort vorfindet, der durch eine schon vorhandene imitierende Nutzung vorgeprägt ist, sind schutzmindernd zu berücksichtigen. Im Umfang der Vorbelastung sind Immissionen – sofern sie die Grenze der Gesundheitsgefahr nicht überschreiten – zumutbar, auch wenn sie sonst in einem vergleichbaren Gebiet nicht hinnehmbar wären. Ein Wohnbauvorhaben fügt sich daher hinsichtlich der hinzunehmenden Immissionen in die vorbelastete Eigenart der näheren Umgebung ein, wenn es nicht stärkeren Belastungen ausgesetzt sein wird als die bereits vorhandene Wohnbebauung. Dabei obliegt es der später hinzutretenden Wohnnutzung, stärkere Belastungen durch mögliche und zumutbare Maßnahmen der „architektonischen Selbsthilfe“, etwa in Bezug auf die Stellung des Gebäudes auf dem Grundstück, zu vermeiden und so auf die benachbarte imitierende Nutzung Rücksicht zu nehmen. Das Tatsachengericht darf sich also nicht mit der Feststellung einer erheblichen Überschreitung des nach der GIRL a. F. maßgeblichen Immissionswerts begnügen und eine belästigungsrelevante Kenngröße von 0,25 und mehr im Sinne einer nicht mehr überwindbaren Zumutbarkeitsschwelle verstehen. Es muss vielmehr in den Blick nehmen, ob bzw. welche Art Wohnnutzung sich im Umfeld des Vorhabens findet, welche Geruchsbelastungen durch welche Immissionsquellen diese Nutzung ausgesetzt ist und wie sich die Örtlichkeit historisch entwickelt hat.

Folgen für die Praxis

Das BVerwG hat mit der langen Tradition der sog. „olfaktorischen Schallmauer“ für Dorfgebiete „aufgeräumt“. Lange ist man davon ausgegangen, dass diese bei 0,25 der Jahresgeruchsstunden liege (vgl. OVG Münster, Urteil vom 01.06.2015, Az. 8 A 1760/13, Rn. 81 – ZUR 2015, 613). Mit der hier besprochenen Entscheidung des BVerwG dürfte jedoch feststehen, dass auch eine höhere Geruchsbelastung (mehr als 0,25 Jahresgeruchsstunden) zumutbar sein kann, wenn sich die im Bestand vorhandene Wohnbebauung bereits einer höheren Geruchsbelastung ausgesetzt sieht und somit ein vorhandener Konflikt nicht verschärft wird. Dies dürfte auch für die inzwischen in Kraft getretene Neufassung der Ersten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft – TA Luft) vom 18.08.2021 (GMBl. S. 1050) gelten, die für alle Vorhaben gilt, deren vollständiger Antrag nach dem 01.12.2021 gestellt wurde (vgl. TA Luft 2021 Nr. 8).