Anforderungen an die „erdrückende Wirkung“

Das OVG NRW hat mit Beschluss vom 22.04.2021, Az. 10 A 3745/18, die Rechtsprechungspraxis zum Gebot der Rücksichtnahme und dort der „erdrückenden Wirkung“ bestätigt und konkretisiert.

Der Fall

Die Entscheidung betraf die Berufung eines Bauherrn gegen eine Entscheidung eines Verwaltungsgerichts. Der Bauherr hatte eine Baugenehmigung erteilt bekommen, die neben der Errichtung eines Mehrfamilienhauses auch die Errichtung einer Grenzwand zu den Nachbarn vorsah. Gegen diese Baugenehmigung hatten die Nachbarn Klage erhoben. Das Verwaltungsgericht war dem Vortrag der Kläger gefolgt. Die Grenzwand dominiere und „erschlage“ das Grundstück der Kläger, das Vorhaben dominiere Teile des Grundstücks der Kläger und mauere diese ein.

Die Entscheidung

Das Oberverwaltungsgericht NRW hat in einem Beschluss nach § 130a VwGO die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert bzw. aufgehoben. Dem OVG NRW zufolge sei die Klage der Nachbarn unbegründet. Die dem Kläger erteilte Baugenehmigung verletze keine Rechte der Kläger. Insbesondere liege hier kein Verstoß gegen das sogenannte Gebot der Rücksichtnahme vor. Eine unzumutbare Beeinträchtigung für das Grundstück der Kläger sei nicht gegeben, auch wenn sich durch das Vorhaben die bauliche Situation, in der sich das Grundstück der Kläger bisher befunden hat, deutlich verschlechtere.

Die Erwartung des Eigentümers eines Grundstücks in einem überwiegend bebauten Bereich, die bauliche Situation der umliegenden Grundstücke werde unverändert bleiben, sei grundsätzlich nicht geschützt. Der Eigentümer eines Grundstücks müsse auch Bebauungen der benachbarten Grundstücke hinnehmen, die die Situation seines eigenen Grundstücks wesentlich verschlechtern. Nur im Ausnahmefall könne eine solche hinzutretende Bebauung eine unzulässige erdrückende Wirkung auf sein Grundstück haben, wenn sie es wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung unangemessen benachteiligt, indem sie ihm förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die „erdrückende“ Anlage aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls trotz Wahrung der erforderlichen Abstandsflächen derartig übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Grundstück oder seine Bebauung nur noch oder überwiegend als von einer herrschenden Anlage „dominiert“ ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird.

In Anwendung dieser Grundsätze und auf Verweis der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu dem Thema führt das OVG NRW für den konkreten Fall aus, dass, weil die Umgebungsbebauung dicht bebaut ist und auch geschlossen, die Kläger mit einer entsprechend verdichteten Umgebungsbebauung rechnen mussten.

Folgen für die Praxis

Die „erdrückenden“ oder „rücksichtslosen“ Wirkungen eines Bauvorhabens sind regelmäßig Teil des Vortrags von Nachbarn, die sich gegen ein Bauvorhaben wenden. Der dafür einschlägige Anknüpfungspunkt – das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme – weicht in seinem rechtlichen Gehalt jedoch regelmäßig von dem ab, was „gemeinhin“ unter dem Eindruck der subjektiven Wahrnehmungen im Einzelfall verstanden werden könnte. Aus diesem Grund ist in den Fällen, in denen auf eine „erdrückende Wirkung“ rekurriert wird, Vorsicht geboten. Hierbei ist auch immer zu berücksichtigen, dass die in dem Zusammenhang angesprochenen Fälle meist solche im Innenbereich nach § 34 BauGB sind. Auch hier gilt die grundsätzlich gesetzgeberische Entscheidung, dass die städtebauliche Entwicklung vorrangig durch Maßnahmen der Innenentwicklung erfolgen soll, vgl. § 1 Abs. 5 Satz 3 BauGB.