Urteil des EuGH (19.01.2023 – C-495/21) zum europäischen Arzneimittelbegriff

Der Europäische Gerichtshof präzisiert in der Entscheidung vom 19.01.2023, Az.C-495/21 den europäischen Arzneimittelbegriff und macht insbesondere Aussagen zu Funktionsarzneimitteln und Präsentationsarzneimitteln

Der Sachverhalt

Die Beteiligten streiten über die Einordnung eines als Präsentationsarzneimittel i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) in Abgrenzung zum stofflichen Medizinprodukt i. S. d. § 3 Nr. 1 Buchst. a) Medizinproduktegesetz (MPG). Mit Bescheid vom 16.01.2014 stellte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf Antrag der zuständigen Landesbehörde nach § 21 Abs. 4 AMG fest, dass es sich bei dem Präparat um ein zulassungspflichtiges Arzneimittel handele. Es erfülle die Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) AMG. Die bestimmungsgemäße Hauptwirkung des Präparats werde mit den Bestandteilen SEAT und Chlorhexidin auf pharmakologische Weise erreicht. Das Produkt sei außerdem ein Präsentationsarzneimittel i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat die Klägerin fristgerecht Klage erhoben und geltend gemacht, dass ihr Präparat ein Medizinprodukt der Klasse I und weder ein Funktions- noch ein Präsentationsarzneimittel sei. Es werde mit Billigung der dortigen Überwachungsbehörde ein in Zusammensetzung und Bezeichnung identisches Präparat als Medizinprodukt auf den Markt gebracht. Das Bundesverwaltungsgericht (Entscheidung vom 20.05.2021, Az. 3 C 19/19) stellte fest, dass die Frage, welcher Produktkategorie ein vom Hersteller als Medizinprodukt der Klasse I mit therapeutischer Zweckbestimmung in den Verkehr gebrachtes Erzeugnis zuzuordnen ist, wenn nicht geklärt werden kann, ob die bestimmungsgemäße Hauptwirkung durch pharmakologische oder nicht-pharmakologische Mittel erreicht wird, einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bedürfe, und legte die Sache dem EuGH vor.

Die Entscheidung

Der EuGH stellte fest, dass Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 06.11.2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 31.03.2004 geänderten Fassung dahin auszulegen ist , dass er nicht nur auf „Funktionsarzneimittel“ gem. Art. 1 Nr. 2 Buchst. b) der Richtlinie 2001/83 in geänderter Fassung, sondern auch auf „Präsentationsarzneimittel“ gem. Art. 1 Nr. 2 Buchst. a) der Richtlinie anwendbar ist. Zudem stellte der EuGH fest, dass Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 93/42/EWG des Rats vom 14.06.1993 über Medizinprodukte in der durch die Richtlinie 2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 05.09.2007 geänderten Fassung und Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 in der durch die Richtlinie 2004/27 geänderten Fassung wie folgt auszulegen ist: Ist die Hauptwirkungsweise eines Erzeugnisses nicht wissenschaftlich festgestellt, kann dieses Erzeugnis weder unter die Definition des Begriffs „Medizinprodukt“ im Sinne der Richtlinie 93/42 in der durch die Richtlinie 2007/47 geänderten Fassung noch unter die Definition des Begriffs „Funktionsarzneimittel“ im Sinne der Richtlinie 2001/83 in der durch die Richtlinie 2004/27 geänderten Fassung fallen.

Konsequenzen der Entscheidung

Der EuGH hat in der Entscheidung vom 19.01.2023, Az. C-495/21 die Begriffe „Medizinprodukt“, „Funktionsarzneimittel“ und „Präsentationsarzneimittel“ und deren Verhältnis zueinander präzisiert. Es bleibt nunmehr der Fortgang des Prozesses zu beobachten und abzuwarten, wie das mitgliedstaatliche Gericht, das im Einzelfall zu beurteilen hat, ob die Voraussetzungen für die Definition des Begriffs „Präsentationsarzneimittel“ im Sinne der Richtlinie 2001/83 in der durch die Richtlinie 2007/47 geänderten Fassung erfüllt sind, zu dem speziell vorliegenden Sachverhalt entscheidet. Zudem bleibt in rechtlicher Hinsicht zu beobachten, wie der EuGH die in diesem Rechtsstreit präzisierten Begriffe in das weitergehende pharmarechtliche Begriffssystem – z. B. betreffend die Begrifflichkeiten „Arzneimittel“ und „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ (vgl. dazu: EuGH vom 02.03.2023, Az. C-760/21) – integriert.