EuGH: Widerrufsrecht bei individuell angefertigten Waren besteht auch dann nicht, wenn mit Produktion noch nicht begonnen wurde

Bei einem Fernabsatzvertrag ist das Widerrufsrecht eines Verbrauchers nach Art. 16 Buchst. c) der Richtlinie 2011/83/EU (§ 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB) bei individualisierten Waren auch dann ausgeschlossen, wenn der Unternehmer noch gar nicht mit der Fertigung dieser Waren begonnen hat. Dies hat der EuGH mit Urteil vom 21.10.2020 (Az.: C‑529/19) entschieden. Damit bewertet der EuGH die im Regelfall weit auszulegenden Verbraucherrechte ausnahmsweise einmal eng.

Hintergrund

Gemäß § 312g Abs. 2 Satz 1 BGB steht einem Verbraucher bei einem außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrag oder bei einem Fernabsatzvertrag kein Widerrufsrecht zu, wenn Waren spezifisch für einen Kunden angefertigt oder auf dessen persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten werden. Europarechtlich beruht dies auf Art. 16 Buchst. c) der Richtlinie 2011/83 (Verbraucherrechte-Richtlinie).

Vor Inkrafttreten der Verbraucherrechterichtlinie hatte der BGH entschieden, dass ein Widerrufsrecht auch bei individualisierten Waren besteht, wenn sich die Ware mit verhältnismäßig geringem Aufwand (Rückbaukosten von ca. 5% des Warenwerts) wieder in den Zustand vor der Individualisierung versetzen lasse. Das OLG Stuttgart dagegen hatte entschieden, dass ein Widerrufsrecht bei individualisierten Waren auch dann ausgeschlossen sei, wenn der Verkäufer noch nicht begonnen hat, die Ware anzufertigen bzw. auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zuzuschneiden.
Mit einem ähnlichen Fall hatte sich nun das AG Potsdam auseinanderzusetzen, welches mit Blick auf die Betroffenheit europäischen Rechts den EuGH anrief.

Sachverhalt

Die beklagte Verbraucherin bestellte bei der Klägerin eine Einbauküche. Deren einzelne Teile sollten von einem dritten Unternehmen auf Grundlage eines „Lochbildes“ digital zusammengesetzt und von Mitarbeitern der Klägerin vor Ort bei der Beklagten eingebaut werden. Dabei hätten sich diese vorgefertigten Teile zum größten Teil ohne Verluste für die Klägerin wieder zurückbauen lassen. Lediglich einzelne Teile wären aufgrund einer individuellen Anpassung, welche ebenfalls vor Ort erfolgt wäre, nicht wiederverwendbar gewesen.

Die Beklagte wollte den Vertrag widerrufen und verweigerte die Abnahme. Zum Zeitpunkt des Widerrufs waren die Teile der Einbauküche noch nicht angefertigt worden. Die Klägerin klagte vor dem Amtsgericht Potsdam auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung.

Das AG Potsdam legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob das Widerrufsrecht gemäß Art. 16 Buchst. c der RL 2011/83/EU (§ 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB) auch dann ausgeschlossen sei, wenn zwar Waren nach Kundenspezifikation angefertigt werden, der Verkäufer aber noch nicht mit der Anfertigung begonnen hat und die Anpassung beim Kunden selbst, nicht durch Dritte, vorgenommen hätte. Weiterhin wollte das AG Potsdam wissen, ob es darauf ankomme, ob sich die Waren mit nur geringen Rückbaukosten, etwa 5 Prozent des Warenwerts, wieder in den Zustand vor der Individualisierung hätten versetzen lassen.

Entscheidung

Der EuGH entschied, dass die Ausnahme gemäß Art. 16 Buchst. c der RL 2011/83/EU einem Verbraucher unabhängig davon entgegengehalten werden könne, ob der Unternehmer mit der Herstellung der individualisierten Waren begonnen hat oder nicht.

Einige Ausnahmen vom Widerrufsrecht hingen davon ab, dass nach Abschluss eines Vertrags bestimmte Ereignisse eintreten, wie beispielsweise die Entfernung eines Siegels. Nach ihrem Wortlaut hinge die Ausnahme des Art. 16 Buchst. c) jedoch nicht von einem solchen Ereignis nach Vertragsschluss ab. Die Ausnahme zähle vielmehr zum Gegenstand des Vertrages und könne dem Verbrauer unmittelbar entgegengehalten werden.

Dies ergebe sich auch aus dem Regelungszusammenhang mit vorvertraglichen Informationspflichten. Diese gäben dem Verbraucher vor Abschluss eines solchen Vertrages Klarheit über seine Pflichten und evtl. Widerrufsrechte und ermöglichten ihm die Entscheidung, ob er sich vertraglich binden wolle oder nicht. Das Bestehen des Widerrufsrechts an ein zukünftiges Ereignis zu knüpfen, dessen Eintritt von einer Entscheidung des Unternehmers abhänge, sei jedoch mit dieser Pflicht zur vorvertraglichen Unterrichtung unvereinbar.

Zudem verwies der EuGH auf die Rechtssicherheit und nahm auf die Erwägungsgründe 7 und 40 zur Verbraucherechte-RL Bezug. Die vom EuGH vorgenommene Auslegung von Art. 16 Buchst. c) trage zur Rechtssicherheit bei, da so Situationen vermieden würden, in denen das Bestehen oder der Ausschluss des Widerrufsrechts davon abhängen würde, wie weit die Vertragserfüllung durch den Unternehmer fortgeschritten sei; über diesen Fortschritt werde der Verbraucher üblicherweise nicht informiert, und er habe daher erst recht keinen Einfluss darauf.

Auf die weitergehenden Details der Vorlagefrage (z.B. 5%-Deckelung, etc.) ging der EuGH nicht weiter ein, da er bereits den wesentlichen Ausgangspunkt der Frage bzw. die erste und zentrale Teilfrage verneinen konnte.

Anmerkung

Die Entscheidung des EuGH ist eher überraschend, da sie sich, wie sonst eher selten, gegen eine jedenfalls denkbare weite Auslegung von Verbraucherrechten stellt. Das vom EuGH angeführte Argument der Rechtssicherheit ist dabei allerdings in der Sache sehr gut nachvollziehbar, da dem Verkäufer kaum zuzumuten ist, seinen Produktionsfortschritt oder gar den von Dritten dem Verbraucher mitzuteilen.

Andererseits betont der vom EuGH angeführte Erwägungsgrund 7 zur Richtlinie ein hohes Verbraucherschutzniveau. Bei verbraucherbezogenen „Großprojekten“ wie Einbauküchen, die der Verbraucher ohnehin selten innerhalb weniger Tage geliefert bekommt, könnte man auch über eine andere Auffassung zum Widerrufsrecht nachdenken, wenn es dem Verkäufer möglich ist, die Produktion ohne Zusatzkosten gar nicht erst zu beginnen. Entsprechende Überlegungen habe sich aber nunmehr erledigt. Der Verbraucher muss mit verbindlich getroffenen Kaufentscheidungen in Bezug auf individuellen Anfertigungen leben und kann über das Widerrufsrecht auch vor Anfertigung der bestellten Produkte nicht mehr „stornieren“.

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Dr. Sascha Vander, LL.M.

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