EGMR bestätigt Recht auf Vergessenwerden

Auch der EGMR in Straßburg benennt nunmehr explizit das Recht auf Vergessenwerden als Bestandteil des Rechts eines Betroffenen auf Achtung des Privatlebens, welches Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit rechtfertigen kann. Der Gerichtshof bestätigte in diesem Sinne Urteile belgischer Gerichte, wonach die Verpflichtung einer Zeitung, in ihrem Online-Archiv den Namen eines Betroffenen in einem Bericht über einen Verkehrsunfall im Jahr 1994 zu anonymisieren, nicht gegen Art. 10 EMRK verstößt (Urteil vom 22.06.2021 – 57292/16).

Der EGMR weist in seinen Gründen darauf hin, dass stets eine umfassende Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung der Privatsphäre des Betroffenen und den medialen Äußerungsfreiheiten durchgeführt werden müsse. Einerseits bestehe durch Anonymisierungspflichten der Presse die Gefahr eines „chilling effects“, der Medien davon abhalten könne, Artikel überhaupt in ein Online-Archiv aufzunehmen. Andererseits existiere kein absolutes Recht auf solche Archive, die zudem auch von physischen Archiven unterschieden werden müssten. Ein Online-Zeitungsarchiv dürfe nicht zu einem „virtuellen Strafregisterauszug“ Betroffener werden, die ihre Strafe verbüßt hätten.

Als Kriterienkatalog für die Abwägung benennt der EGMR: Beitrag zu einer Debatte im öffentlichen Interesse; Bekanntheit der betroffenen Person bzw. das Bekleiden eines öffentlichen Amtes; das weitere Verhalten des Betroffenen gegenüber den Medien; Art und Weise, wie die Informationen erlangt wurden und ihr Wahrheitsgehalt sowie Inhalt, Form und Wirkung der Veröffentlichung, die internetspezifisch zu bewerten seien.

Im konkreten Fall habe es sich nicht um eine Person des öffentlichen Lebens gehandelt. Zudem habe der Unfallverursacher nie selbst die Öffentlichkeit gesucht habe. Demgegenüber sei die Anordnung der Anonymisierung das verhältnismäßig mildeste Mittel gewesen, da hierdurch der Artikel dennoch weiter abrufbar bleibe.

Mit diesen Ausführungen befindet sich der EGMR in Abkehr von früheren Entscheidungen, die stark die Bedeutung von (Online-)Archiven betont hatten, nunmehr im Gleichklang mit der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts. Der EGMR erkennt auch an, dass ein Vorgehen gegen Medienorgane gleichrangig neben einem Vorgehen gegen Suchmaschinenbetreiber möglich ist. Abschließend betont der EGMR jedoch auch, dass aus dem Recht auf Vergessenwerden keine Pflicht für Medien herausgelesen werden könne, ihre Archive systematisch und kontinuierlich auf Altberichterstattung überprüfen zu müssen, sondern dass eine Anonymisierung nur auf ausdrücklichen Beanstandung eines konkreten Artikels eines Betroffenen verlangt werden könne.