BVerfG: Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit bei Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne Anhörung der Gegenseite trotz vorprozessualer Stellungnahmefrist

Das BVerfG hat in einer aktuellen Entscheidung (BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 27.10.2022 – 1 BvR 1846/22) anhand eines presserechtlichen Sachverhalts verdeutlicht, wann eine einstweilige Verfügung ohne prozessuale Anhörung des Gegners erlassen werden kann – und vor allem, wann nicht.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin, eine Verlegerin u. a. einer deutschlandweit erscheinenden Tageszeitung, wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen eine durch das LG Berlin erlassene einstweilige Verfügung. Mit dieser wurde der Beschwerdeführerin die Wort- und Bildberichterstattung über einen Vorfall mit vermeintlich islamistischem Hintergrund untersagt. Sie berichtete in diversen Medien in Bild und Wort über einen Vorfall auf dem Vorfeld eines Flughafens, bei dem drei Mitarbeiter der Gepäckabfertigung – darunter die beiden Antragsteller des Ausgangsverfahrens – dabei fotografiert wurden, wie sie, in Richtung eines mit Passagieren besetzten Flugzeugs blickend, nebeneinanderstehend jeweils mit einem etwa auf Kopfhöhe neben sich gehaltenen Zeigefinger himmelwärts zeigten. Dies sei ein islamistisches Zeichen des sog. „Islamischen Staats“. In den Berichten hieß es u. a. „ISLAMISTEN arbeiten am Flughafen!“.

Anfang August 2022 forderten die Antragsteller des Ausgangsverfahrens die Beschwerdeführerin anwaltlich zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung bis zum 08.08.2022 auf. Für den Fall des fruchtlosen Fristablaufs kündigten sie weitere rechtliche Schritte an. Die Beschwerdeführerin äußerte sich darauf nicht. Daher beantragten die Antragsteller am 17.08.2022 beim Landgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Dem Antrag lagen eidesstattliche Versicherungen der Antragsteller bei, die übereinstimmend islamistische Motive verneinten, die der Abmahnung nicht beigefügt waren. Mit Beschluss vom 18.08.2022 erließ das Landgericht die einstweilige Verfügung antragsgemäß, ohne die Beschwerdeführerin vorher anzuhören. Die Beschwerdeführerin legte hiergegen Widerspruch ein und beantragte zudem gemeinsam mit der Verfassungsbeschwerde den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das BVerfG.

Die Entscheidung

Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde statt und setzte die Wirkung des Beschlusses des LG Berlin im Wege der einstweiligen Anordnung zunächst – bis zur erneuten Entscheidung des LG Berlin unter Wahrung des Grundsatzes der prozessualen Waffengleichheit – aus.

Denn die einstweilige Verfügung verletze die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG. Als „prozessuales Urrecht“ gebiete der Grundsatz prozessualer Waffengleichheit, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen. Entbehrlich sei eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung nach Erlass der einstweiligen Verfügung sei, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde. Auch wenn über Verfügungsanträge in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden müsse, berechtige dies das Gericht nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren herauszuhalten.

Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag komme grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit gehabt habe, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern. Dabei könne das Gericht aber auch die vorprozessuale Möglichkeit des Antragsgegners miteinbeziehen, auf die Abmahnung zu erwidern. Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genüge eine vorprozessuale Stellungnahmefrist aber nur dann, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ vorlägen:

  • der Verfügungsantrag müsse im Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht werden;
  • die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung in der Abmahnung müssten mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sein;
  • der Antragsteller müsse ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht einreichen.

Demgegenüber sei dem Antragsgegner Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wurde.

Nach diesen Maßstäben habe das LG Berlin den Grundsatz prozessualer Waffengleichheit verletzt, indem es die Beschwerdeführerin nicht angehört habe. Es sei schon zweifelhaft, ob der Antrag am vom 17.08.2022 vor dem Hintergrund des Ablaufs der gesetzten Stellungnahmefrist am 08.08.2022 unverzüglich gewesen sei. Jedenfalls seien aber die Begründungen in der Abmahnschrift und im Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung nicht identisch gewesen, insbesondere, da die Antragsteller dem Gericht erstmals eidesstattliche Versicherungen vorgelegt hätten, die der Abmahnung nicht beigefügt gewesen seien. Dementsprechend sei eine Anhörung der Gegenseite aufgrund neuen Vortrags der Antragsteller zwingend nötig gewesen. Denn die Beschwerdeführerin habe keine Gelegenheit gehabt, auf den Inhalt der eidesstattlichen Versicherung Stellung zu nehmen.

Praxishinweis

Die Entscheidung des BVerfG verdeutlicht, wie eng die Ausnahme von dem Grundsatz auszulegen ist, dass der Gegenseite in einem gerichtlichen Verfahren rechtliches Gehör gewährt werden muss. Eine Entscheidung ohne die Gewähr rechtlichen Gehörs darf nur beim kumulativen Vorliegen der oben dargestellten engen Voraussetzungen erlassen werden. Daher ist, sollte man eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im Eilverfahren anvisieren, besonderer Wert auf die Einhaltung dieser Voraussetzungen zu legen.

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Prof. Dr. Markus Ruttig

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