BVerfG erkennt „Recht auf Vergessenwerden“ im Internet an

Das BVerfG hat seine lange mit Spannung erwarteten Beschlüsse zum Recht auf Vergessenwerden gefasst. Besprochen werden diese Entscheidungen von unserer Kollegin, Frau Dr. Carina Becker, deren Dissertation sich mit diesem Thema befasst und die, wozu wir Carina Becker herzlich gratulieren, vom BVerfG auch zitiert wird. Wir wünschen eine interessante Lektüre!

Mit zwei Grundsatzentscheidungen vom 06.11.2019 hat nun auch das Bundesverfassungsgericht ein „Recht auf Vergessen(werden)“ im Internet, also einen Anspruch auf Beschränkung der Publizität personenbezogener Informationen im Internet nach einem bestimmten Zeitablauf, grundsätzlich anerkannt. Dies entschied es zum einen zur Konstellation von Altmeldungen in Online-Pressearchiven (1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I). Der zweite Fall betraf den auch schon vom EuGH (Urt. v. 13.5.2014 – C-131/12 – Google Spain) behandelten Anspruch auf Auslistung bestimmter Suchergebnisse gegen einen Suchmaschinenbetreiber (1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II).

Den Sachverhalt zur ersten Entscheidung bildete der sog. Apollonia-Fall. Ein wegen zweifachen Mordes verurteilter Betroffener klagte 2009, nach Verbüßung seiner Haftstrafe, gegen die immer noch im Onlinearchiv eines Verlages verfügbare identifizierende Berichterstattung über den Kriminalfall aus den frühen 1980er Jahren, die bei Angabe seines Namens in eine Internetsuchmaschine unter den ersten Treffern angezeigt wird. Der BGH hatte seine Klage auf Unterlassung der Berichterstattung in letzter Instanz abgewiesen.

Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde gab dem BVerfG zunächst Gelegenheit, die grundsätzliche Verankerung eines Schutzes gegen eine die Persönlichkeitsentfaltung gefährdende, dauerhaft beeinträchtigende Verbreitung personenbezogener Berichterstattung – auch und gerade im Internet – im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht darzulegen. Nach den Worten des Verfassungsgerichts gehört zur Wahrung der freien Entfaltbarkeit der Persönlichkeit auch die Möglichkeit, sich fortentwickeln, sich zu verändern und die Chance zu haben, Irrtümer und Fehler hinter sich zu lassen. Um dies zu gewährleisten, müsse es möglich sein, die öffentliche Verfügbarkeit von Informationen über vergangene Sachverhalte beschränken zu können, um im sozialen Umfeld nicht immer wieder neu mit seinem vergangenen Verhalten konfrontiert zu werden – das von der Literatur so bezeichnete „Recht auf Vergessenwerden“. Allerdings sei dies kein allein in dem Ermessen des Betroffenen stehendes Bestimmungsrecht, sondern stehe in Wechselwirkung mit gegenläufigen Interessen der Öffentlichkeit und Dritter.

Gewissermaßen in einem obiter dictum nahm das BVerfG eine Abgrenzung zum in diesem Fall nicht einschlägigen Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor, betont aber – mit Seitenblick auf marktmächtige, im Internet agierende Unternehmen –, dass dieses mittelbar auch in Konstellationen zwischen Privaten wirkt. Auch in diesem Kontext garantiere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dem Einzelnen Einflussnahmemöglichkeiten auf Erfassung und Verwendung seiner personenbezogenen Daten.

Als entscheidende Determinanten für die Bestimmung des Gewährleistungsgehaltes des „Rechts auf Vergessenwerden“ in den diskutierten Fallkonstellationen benennt das BVerfG den Gesichtspunkt des Zeitablaufs seit Erstveröffentlichung sowie die durch das Internet stark veränderten Verbreitungs- und Rezeptionsmöglichkeiten von personenbezogenen Inhalten; nämlich insbesondere die dauerhafte Speicherung, jederzeitige und ubiquitäre Verfügbarkeit sowie die leichte Erschließbarkeit durch Suchmaschinen, auf die unter den heutigen Nutzungsgewohnheiten auch bei nur geringem Informationsanlass schnell zurückgegriffen werde. Weiterhin könne das Vorverhalten des Betroffenen entscheidend sein. Insofern fordert das BVerfG für eine Chance auf ein Vergessen „auch ein Verhalten, das von einem ‚Vergessenwerdenwollen‘ getragen ist“.

Um die Meinungs- und Pressefreiheit nicht über Gebühr einzuschnüren, erlegt das BVerfG den Medienunternehmen keine Pflicht zur proaktiven, anlasslosen Überprüfung ihrer Archive auf. Eine Haftung besteht daher erst ab einem substantiierten Hinweis des Betroffenen auf den persönlichkeitsbeeinträchtigenden Altinhalt.

Im konkreten Fall sah das BVerfG die durch die veränderten Verbreitungsmöglichkeiten des Internets hervorgerufene Breitenwirkung nicht hinreichend berücksichtigt. Zudem sei auch das Verhalten des Betroffenen, der nicht zu einem „Wachhalten“ seines Falls beigetragen habe, nicht gewürdigt worden. Dennoch verlangt das BVerfG keine vollständige Löschung oder Anonymisierung der Altberichte, soweit der Verlag technische Maßnahmen, die gegen die Auffindbarkeit der Inhalte mittels Suchmaschinen zumindest einen „gewissen Schutz“ bieten, implantiere. Die Festlegung, welche solcher Maßnahmen in den konkreten Fällen zu ergreifen sind, bleibt mit dem verfassungsgerichtlichen Hinweis auf die Schnelllebigkeit technischen Fortschritts den Instanzgerichten überlassen.

Im zweiten zu entscheidenden Fall ging es um ein Anspruchsbegehr auf Auslistung von Treffern aus der Ergebnisliste einer Suchmaschine, die bei Suchabfragen zum Namen einer Unternehmerin auf einen Fernsehbeitrag aus dem Jahr 2010 verwiesen, in dem der dort namentlich genannten Betroffenen ein unfairer Umgang mit einem gekündigten Arbeitnehmer vorgeworfen wurde. Ihre 2016 vor Gericht gebrachte Klage wurde vom zuständigen OLG abgewiesen. Im Ergebnis bestätigte das BVerfG dieses Urteil, machte aber auch deutlich, dass der Sachverhalt in einigen Jahren aufgrund des Kriteriums des Zeitablaufs möglicherweise anders zu beurteilen sei.

Mit seiner aufgrund der Vollharmonisierung des europäischen Datenschutzrechts ausschließlich anhand der Europäischen Grundrechtcharta überprüften Entscheidung entwickelte das BVerfG die Google-Spain-Entscheidung des EuGH weiter, der dort von einem grundsätzlichen Vorrang der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen (Art. 7 und Art. 8 GRCh) ausgegangen war. Das deutsche Verfassungsgericht stellt nun klar, dass in Konstellationen, in denen wie hier auch die Meinungsfreiheit eines Dritten als Urheber des Verlinkten Inhalts betroffen ist, keine Vermutung des Vorrangs der Persönlichkeitsrechte besteht, sondern vielmehr eine Abwägung vorzunehmen ist. Zugunsten des Suchmaschinenbetreibers ist nach den Ausführungen des BVerfG zwar nur die unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRCh) zu berücksichtigen. Wenn allerdings ein Verbot eines Suchnachweises ergehen soll, sind in die Abwägung auch die unmittelbar betroffene Informationsfreiheit der Nutzer und die Meinungsäußerungsfreiheit der Medien oder des Äußernden einzustellen, denen mit der Auslistung ein Verbreitungsweg für ihren Inhalt entzogen wird. Insofern seien die oben genannten, in der Entscheidung „Recht auf Vergessen I“ entwickelten Abwägungskriterien anzuwenden.
Das BVerfG legt überdies dar, dass die Inanspruchnahme des Suchmaschinenanbieters für den Betroffenen nicht subsidiär gegenüber der Haftung des Inhalterstellers ist. Wie auch bereits der EuGH in der Google-Spain-Entscheidung ausführte, kann die Tätigkeit der Suchmaschine hinsichtlich der Informationserschließung im Internet für den Betroffenen eigenständige Belastungen für seine Persönlichkeitsrechte mit sich bringen, die die gleichrangige Inanspruchnahme der Suchmaschine rechtfertigen.

Fazit

Nicht nur wegen der erstmaligen Prüfung einer Verfassungsbeschwerde ausschließlich am Maßstab der Europäischen Grundrechtcharta kommt den Entscheidungen wegweisende Bedeutung für die Stärkung des Persönlichkeitsrechtsschutzes im Internet zu. Spannend bleibt, wie die vom Verfassungsgericht geforderten technischen Vorkehrungen zur Verhinderung der breitenwirksamen Auffindbarkeit eines personenbezogenen Inhalts im Internet praktisch umgesetzt werden. Diese gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigen festzulegen, ist nun Aufgabe der Instanzgerichte.