BGH zur Prüfung des Gesamteindrucks der Merkmale beim Gemeinschaftsgeschmacksmuster 

In der Entscheidung „Tellerschleifgerät“ (Urteil v. 09.03.2023, I ZR 167/21) hat sich der BGH mit der Prüfung des Gesamteindrucks der Merkmale beim Gemeinschaftsgeschmacksmuster auseinandergesetzt.

Der BGH führt aus, dass der Schutzumfang des Geschmacksmusters führen vom Abstand des Klagemusters zum vorbekannten Formenschatz abhänge. Dieser Abstand sei durch einen Vergleich des Gesamteindrucks des Klagemusters und der vorbekannten Formgestaltung zu ermitteln. Je größer der Abstand sei, desto größer sei der Schutzumfang des Klagemusters zu bemessen. Der anerkannte Grundsatz, dass der Schutzumfang eines Geschmacksmusters von dessen Abstand zum vorbekannten Formenschatz abhängt, gelte auch für die Bestimmung des Schutzumfangs eines Gemeinschaftsgeschmackmusters nach Art. 10 Abs. 2 GGV (Verordnung (EG) 6/2002 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster).

Nach der Rechtsprechung des EuGH sei für die bei Anwendung des Art. 8 Abs. 1 GGV vorzunehmende Beurteilung, ob Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind, zu ermitteln, ob diese Funktion der einzige diese Merkmale bestimmende Faktor sei. Die Vorschrift schließe den geschmacksmusterrechtlichen Schutz für Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses aus, wenn Erwägungen anderer Art als das Erfordernis, dass dieses Erzeugnis seine technische Funktion erfüllt, insbesondere solche, die mit der visuellen Entscheidung zusammenhängen, bei der Entscheidung für diese Merkmale keine Rolle gespielt haben. Dies sei auch dann der Fall, wenn es andere Geschmacksmuster gibt, mit denen sich dieselbe Funktion erfüllen lässt (EuGH, GRUR 2018, 612 – DOCERAM; WRP 2023, 434 – Papierfabriek Doetinchem; BGH, GRUR 2021, 473 – Papierspender).

Das nationale Gericht habe für die Beurteilung der Frage, ob die fraglichen Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses im Sinne dieser Vorschrift ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind, alle objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu würdigen. Die Beurteilung sei insbesondere mit Blick auf das fragliche Geschmacksmuster, auf die objektiven Umstände, aus denen die Motive für die Wahl der Erscheinungsmerkmale des betreffenden Erzeugnisses deutlich werden, auf Informationen über dessen Verwendung oder auch auf das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, mit denen sich dieselbe technische Funktion erfüllen lässt, vorzunehmen, soweit für diese Umstände, Informationen oder Alternativen tragfähige Beweise vorliegen (EuGH, GRUR 2018, 612 – DOCERAM; WRP 2023, 434 – Papierfabriek Doetinchem; BGH, GRUR 2021, 473 – Papierspender). Ein ästhetischer Gehalt gehöre nicht zu den Schutzvoraussetzungen eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters (EuGH, GRUR 2018, 612 – DOCERAM; BGH, GRUR 2021, 473 – Papierspender).

Die Darlegungs- und Beweislast für einen Schutzausschluss nach Art. 8 Abs. 1 GGV obliege – so der BGH weiter – der Partei, die sich darauf beruft. Es komme jedoch eine sekundäre Darlegungslast des Designinhabers für in seiner Sphäre liegende Umstände in Betracht (BGH, GRUR 2021, 473 – Papierspender). Gleichzeitig betont der BGH, dass die Prüfung für jedes Erscheinungsmerkmal gesondert vorzunehmen sei.

Zusätzlich sei zu berücksichtigen, dass es sich bei der nach Art. 8 Abs. 1 GGV vorzunehmenden Beurteilung, ob Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses nach den für den Einzelfall maßgeblichen objektiven Umständen ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind, um eine tatgerichtliche Würdigung handele. Sie sei vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüfbar, ob das Tatgericht einen zutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt, nicht gegen Erfahrungssätze oder Denkgesetzte verstoßen und keine wesentlichen Umstände unberücksichtigt gelassen habe.

Die gemäß Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) 6/2002 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (GGV) erforderliche Prüfung, ob Erscheinungsmerkmale ausschließlich durch die technische Funktion des Erzeugnisses bedingt sind, ist für jedes den Gesamteindruck prägende Merkmal gesondert anhand aller für den Einzelfall maßgeblichen objektiven Umstände vorzunehmen (Bestätigung von EuGH, Urteil vom 08.03.2018 – C-395/16, GRUR 2018, 612 = WRP 2018, 546 – DOCERAM; Urteil vom 02.03.2023 – C-684/21, WRP 2023, 434 – Papierfabriek Doetinchem; BGH, Urteil vom 07.10.2020 – I ZR 137/19, GRUR 2021, 473 = WRP 2021, 196 – Papierspender).

(Amtlicher Leitsatz des BGH)