Der BGH (Beschl. v. 31.10.2024 – VI ZR 10/24) hat unmittelbar nach Inkrafttreten von § 552b ZPO n.F. von der Möglichkeit zur Bestimmung eines Verfahrens als sog. Leitentscheidungsverfahren Gebrauch gemacht. Die insoweit vom BGH adressierten Rechtsfragen sind für eine Vielzahl sog. Scraping-Verfahren maßgeblich, in welchen datenschutzrechtliche Ansprüche gegen Facebook geltend gemacht werden.
Sachverhalt
Der Kläger macht Schadensersatz-, Feststellungs-, Unterlassungs- und Auskunftsansprüche wegen einer Verletzung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) durch Facebook geltend.
Der Kläger unterhält bei Facebook ein Nutzerkonto der Kläger ein Nutzerkonto und hatte auf dem Netzwerk persönliche Daten eingestellt. Hierzu gehörte die für die Registrierung erforderliche und für alle Nutzer stets öffentlich einsehbare Angabe seines Namens, Geschlechts sowie der ihm zugewiesenen Nutzer-ID. Neben den immer einsehbaren Pflichtangaben können die Nutzer in ihrem Profil weitere Daten zu ihrer Person angeben und im von der Beklagten vorgegebenen Rahmen darüber entscheiden, welche anderen Gruppen von Nutzern (z.B. Freunde, öffentlich, etc.) auf diese Daten zugreifen können.
Im Zeitraum von Januar 2018 bis September 2019 ordneten unbekannte Dritte durch die Eingabe randomisierter Nummernfolgen über die Kontakt-Import-Funktion des Netzwerks Telefonnummern zu Nutzerkonten zu und griffen die zu diesen Nutzern vorhandenen Daten ab (sog. Scraping). Die auf diese Weise erlangten und nunmehr mit einer Telefonnummer verknüpften Daten von ca. 533 Millionen Nutzern wurden im April 2021 im Internet öffentlich verbreitet.
Hiervon waren auch persönliche Daten des Klägers (Telefonnummer in Verknüpfung mit den Daten seines Nutzerkontos, z.B. Vorname, Nachname, Geschlecht und Arbeitsstätte) betroffen. Der Kläger begehrt die Leistung von immateriellen Schadensersatz, weil Facebook in mehrfacher Hinsicht gegen die DS-GVO verstoßen und seine Daten nicht ausreichend geschützt habe. Er habe einen spürbaren Kontrollverlust über seine Daten erlitten, der zu einem massiven Anstieg von betrügerischen Kontaktversuchen geführt habe.
Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Auf die vom Landgericht zugelassene Berufung der Beklagten hat das OLG die Entscheidung des Landgerichts unter Zurückweisung der Anschlussberufung des Klägers abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Mit seiner vom OLG zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche weiter.
Entscheidung
Der BGH bestimmte das Verfahren zu einem sog. Leitentscheidungsverfahren im Sinne des § 552b ZPO n.F. Die Revision werfe Rechtsfragen auf, die für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung seien. Beim erkennenden Senat seien derzeit 25 weitere Revisionsverfahren zu dem Scraping-Vorfall bei Facebook anhängig. In den Tatsacheninstanzen sind bei unterschiedlichen Gerichten noch insgesamt mehrere tausend Verfahren anhängig.
Die vom BGH in diesem Kontext bestimmten Rechtsfragen betreffen einen ganzen Blumenstrauß von zum Teil grundsätzlicheren und bislang nicht höchstrichterlich geklärten Rechtsfragen. Dies betrifft – neben Fragen zur hinreichenden Bestimmtheit der Klageanträge und datenschutzkonformen Ausgestaltung der sog. „Kontakt-Import Funktion“ – vor allem die folgenden Streitfragen:
- Ist der bloße Verlust der Kontrolle über die gescrapten und nunmehr mit der Mobiltelefonnummer des Betroffenen verknüpften Daten geeignet, einen immateriellen Schaden im Sinne des Art. 82 Abs. 1 DSGVO zu begründen? Falls ja, wie wäre der Ersatz für einen solchen Schaden zu bemessen?
- Welche Anforderungen sind an die Substantiierung einer Schadensersatzklage nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO zu stellen?
- Reicht die bloße Möglichkeit des Eintritts künftiger Schäden in einem Fall wie dem vorliegenden aus, um ein Feststellungsinteresse im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO zu begründen?
Anmerkung
§ 552b ZPO n.F. über das Leitentscheidungsverfahren zielt im Kern darauf ab, die Justiz vor massenhaften Einzelklagen zu bewahren. Typische Beispiele dafür sind gleichgelagerte Verbraucheransprüche wegen unzulässiger Klauseln.
Das Regelungskonzept des Leitentscheidungsverfahrens verfolgt insoweit ein im Zivilrecht ungewöhnliches und der Parteimaxime widersprechendes Konzept: Der BGH kann Verfahren nämlich auch dann zu Leitentscheidungsverfahren bestimmen und Rechtsfragen entscheiden, wenn die Parteien die Revision zurücknehmen oder eine sonstige Erledigung des Revisionsverfahrens eintritt.
Ein wesentliches Ziel dahinter ist klar: Streitparteien soll die Möglichkeit genommen werden, durch eine Rücknahme der Revision oder sonstige Erledigung eine höchstrichterliche Entscheidung zu vermeiden. Zudem sollten Instanzgerichte, die mit ähnlichen Verfahren befasst sind, solche Verfahren auf Grundlage einer ergehenden Leitentscheidung dann zügiger beenden können.
Das aus Justizsicht praktische Bedürfnis nach einer solchen Verfahrensmöglichkeit dürfte nicht zuletzt mit Blick darauf deutlich werden, dass der BGH die Möglichkeit des Leitentscheidungsverfahrens unmittelbar nach Inkrafttreten der Neuregelung ergriffen hat. Insbesondere auch aus passivbeklagter Perspektive dürfte die Neuregelung erhebliche Relevanz entfalten und im Kontext der strategischen Ausrichtung bzw. Verteidigungslinie bei sog. „Massenverfahren“ maßgeblich zu bedenken sein. Für laufende Verfahren kommen solche Überlegungen zu spät – die Neuregelung zum Leitentscheidungsverfahren gilt nämlich nicht nur für „Neufälle“.