BVerfG stärkt den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Internet

Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 19.12.2021 (1 BvR 1073/20) klargestellt, dass bei der Prüfung, ob eine Äußerung eine Beleidigung darstellt, stets eine Abwägung der widerstreitenden Interessen durchzuführen ist – es sei denn, es handelt sich um Schmähkritik.

Sachverhalt

Ein Bloginhaber lud im Jahre 2016 ein Bild der Beschwerdeführerin in seinem Blog hoch, begleitet von einem vermeintlichen – tatsächlich unrichtigen – Zitat, welches die Beschwerdeführerin als Befürworterin von Pädophilie erscheinen ließ. Dem Blogeintrag lag eine Debatte im Jahre 2015 hinsichtlich der Haltung der Partei DIE GRÜNEN zum Thema Pädophilie in den 1980er Jahren zugrunde. Wegen des Blogeintrags hat die Beschwerdeführerin den Bloginhaber auf Unterlassung und Zahlung von Schmerzensgeld in Anspruch genommen. Darauf veröffentlichte der Bloginhaber Anfang 2019 einen Beitrag bei Facebook, in dem er die Klage der Beschwerdeführerin kritisierte. Dem Beitrag wurde ein Bild der Beschwerdeführerin und der ursprüngliche Blogbeitrag angehangen. Darunter fanden sich einige Kommentare anderer Facebooknutzer, unter anderem mit Aussagen wie „Pädophilen-Trulla“ oder „Sie wollte auch mal die hellste Kerze sein, Pädodreck.“

Da die Identität und Adressdaten der Nutzer, die die Kommentare abgaben, der Beschwerdeführerin nicht bekannt waren, stellte sie beim LG Berlin Anträge nach § 14 Abs. 3, 4 des Telemediengesetzes alter Fassung („TMG a.F.“). Danach musste ein Diensteanbieter – z. B. Facebook – nach gerichtlicher Anordnung im Einzelfall Auskunft über die bei ihm vorhandenen Bestandsdaten – also u. a. Nutzerdaten – erteilen, soweit dies zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche wegen der Verletzung absolut geschützter Rechte aufgrund rechtswidriger Inhalte, die von § 1 Abs. 3 des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes („NetzDG“) erfasst werden – z. B. beleidigende Inhalte nach § 185 StGB – erforderlich ist.

Das LG Berlin hatte den Antrag zunächst vollständig abgelehnt. Daraufhin hatte die Beschwerdeführerin Beschwerde eingelegt, der das LG Berlin hinsichtlich einzelner Kommentare (es waren insgesamt 22) teilweise abgeholfen hatte. Das KG Berlin hat im dagegen gerichteten Beschwerdeverfahren dem Antrag auch für weitere Kommentare stattgegeben, ihn aber hinsichtlich 10 von 22 Kommentaren abgelehnt. Dagegen wandte sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Verfassungsbeschwerde.

Die Entscheidung

Das BVerfG hat die Beschlüsse des KG Berlin aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das KG zurückverwiesen, da die Beschlüsse die Beschwerdeführerin in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 GG verletzten.

Das KG habe die Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verkannt und angenommen, dass eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB erst vorliege, wenn eine Äußerung lediglich als persönliche Herabsetzung oder Schmähung zu verstehen sei.

Dieser Maßstab, also, dass eine Äußerung erst strafrechtliche Relevanz im Sinne des § 185 StGB erreiche, wenn ihr diffamierender Gehalt so erheblich sei, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheine – es sich also um Schmähkritik handele -, sei fehlerhaft. Das KG verkenne, dass das Merkmal des „Sachbezuges“ lediglich als Abgrenzungskriterium einer „abwägungsfreien Schmähung“ von einer „abwägungspflichtigen Beleidigung“ diene. Liege keine Schmähung vor, sei aber in jedem Fall eine Abwägung der widerstreitenden Interessen – nämlich der Meinungsfreiheit auf der einen und der persönlichen Ehre als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf der anderen Seite – vorzunehmen, um feststellen zu können, ob eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB gegeben ist.

Nach Auffassung der 2. Kammer des BVerfG habe das KG „Schmähkritik“ und „Beleidigung“ fehlerhaft gleichgesetzt. Es habe zwar die Notwendigkeit einer Abwägung der widerstreitenden Interessen angedeutet, eine solche aber fehlerhaft nicht vorgenommen. Die Vorinstanz habe allein und entscheidend auf die strengen Voraussetzungen, die an Schmähkritik zu stellen seien, abgestellt und diese im Ergebnis mit dem Argument, dass ein hinreichender Bezug der Kommentare zur Sachdebatte bestanden habe, verneint. Damit sei die Annahme des KG fehlerhaft, dass in den Kommentaren „Pädophilen-Trulla“ und „[…] Pädodreck“ schon deshalb keine Beleidigungen zu sehen seien, da sie in einem hinreichenden sachlichen Zusammenhang zur Debatte über die Haltung der Grünen zum Thema Pädophilie in den 80er Jahren und Aussagen der Beschwerdeführerin gestanden hätten. Der „Abwägungsausfall“ allein führte zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung.

Das BVerfG betont in seinem Beschluss außerdem, dass die Stellung der Beschwerdeführerin als Amtsträgerin und Politikerin nicht dazu führe, dass jegliche Äußerungen im öffentlichen Meinungskampf hingenommen werden müssen – wovon das KG bzgl. einzelner Aussagen ohne Begründung ausgegangen war. Vielmehr liege der wirksame Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern im öffentlichen Interesse, weswegen auch in solchen Fällen stets eine einzelfallbezogene Abwägung vorzunehmen sei.

Praxishinweis

Das BVerfG betont ausdrücklich, dass im Rahmen der Prüfung, ob eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB vorliegt, zwischen „abwägungspflichtigen Beleidigungen“ und „abwägungsfreier Schmähkritik“ unterschieden werden muss. Diese Differenzierung dürfte zu einer Stärkung der Rechte der Adressaten von „Hate Speech“ im Internet führen.

Betroffene können gemäß § 21 Abs. 2, 3 des Telekommunikations-Telemedien-Datenschutz-Gesetzes („TTDSG“) Anträge beim zuständigen Landgericht auf Auskunft über Identität und Adresse etwaiger Verletzer beantragen, wenn dies zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche, etwa aufgrund des Vorliegens von Beleidigungen nach § 185 StGB, erforderlich ist. Nach der Entscheidung des BVerfG ist nun klargestellt, dass solche Anträge nicht mehr allein deshalb abgelehnt werden können, weil zwischen den diffamierenden Äußerungen und einer Auseinandersetzung ein sachlicher Bezug besteht.

 

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Prof. Dr. Markus Ruttig

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