Neue Runde um die „unbillige“ Weisung?

Nach § 106 S. 1 GewO kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen. Was ist nun, wenn Streit darüber besteht, ob eine konkrete Arbeitgeberweisung die rechtlichen Grenzen überschritten hat und „unbillig“ ist? Muss der Arbeitnehmer der noch nicht arbeitsgerichtlich als „unbillig“ festgestellten Weisung pauschal Folge leisten oder nicht? Muss ein Arbeitnehmer etwa einer Versetzung in eine andere Stadt, die er für unbillig hält, trotz der massiven sozialen Folgen solange Folge leisten, bis rechtskräftig die Unbilligkeit festgestellt ist? Der 5. Senat des BAG (NZA 2012, 858) bejaht diese Frage; für einen differenzierten Ansatz plädiert Hromadka (NZA 2017, 601).

Der 10. Senat des BAG möchte – divergierend – in einer aktuellen Entscheidung jetzt die Auffassung vertreten, dass der Arbeitnehmer im Anwendungsbereich des § 106 GewO eine unbillige Weisung des Arbeitgebers auch dann nicht befolgen muss, wenn insoweit keine rechtskräftige arbeitsgerichtliche Entscheidung vorliegt. Der 10. Senat fragt deshalb nach § 45 III 1 ArbGG an, ob der 5. Senat an seiner Rechtsauffassung festhält (Beschl. v. 14.6.2017 – 10 AZR 330/16, PM 25/17, NZA aktuell H. 12/2017, S. VI).

Schließt sich der 5. Senat dem 10. Senat an oder ruft er gar den Großen Senat an, der dann ggf. dem 10. Senat folgt, kommt es zu nicht unerheblichen Änderungen des bisherigen Handlungsrahmens im Arbeitsverhältnis. Denn in diesem Fall reduziert sich das „Weisungsverweigerungsrisiko“ für den Arbeitnehmer, und das Annahmeverzugsrisiko des Arbeitgebers wird erhöht.

Dennoch: Auch bei einer allgemeinen Konstituierung der Rechtsauffassung des 10. Senats – Aufgabe der durch arbeitsgerichtliche Entscheidung auflösend bedingten Richtigkeitsfiktion der Weisung – wird das Weisungsverweigerungsrisiko des Arbeitnehmers zwar gesenkt, aber nicht ausgeschlossen. Denn auch der Große Senat kann das Tatbestandsmerkmal der Unbilligkeit in § 106 S. 1 GewO nicht abschaffen. Es wird im Falle einer Rechtsprechungsänderung – ähnlich wie bei der Bestimmung einer angemessenen Mietminderung (§ 536 I BGB) – schwierig bleiben, die „rote Linie“ vorab zu bestimmen, die durch die Unbilligkeit (rechts-)tatsächlich gezogen ist und wird. Schlagwortartig: Verschätzt sich der gekündigte Arbeitnehmer, dann ist er raus, wie der wegen Zahlungsrückstands gekündigte Mieter, der sich bei der Mietminderung verschätzt hat. Arbeitnehmer werden mithin gleichwohl – wie bisher – prüfen, ob zur Vermeidung arbeitgeberseitiger Sanktionen einer aus Arbeitnehmersicht als unbillig angesehenen Weisung nicht doch – unter Vorbehalt, kombiniert mit Unbilligkeitsfeststellungsklage – zu folgen ist, um Arbeitsplatzverlustrisiken auszuschließen. Die im Falle einer Rechtsprechungsänderung eintretende Schwächung des für die Arbeitsrechtssystematik in vielfältiger Weise tragenden starken Weisungsrechts bringt für Arbeitnehmer mithin nur mäßigen Gewinn.

Der Fortgang des Anfrageverfahrens ist mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten. Es bleibt also spannend, ob die durch arbeitsgerichtliche Entscheidung auflösend bedingte Richtigkeitsfiktion der unbilligen Arbeitgeberweisung wirklich vor dem Exitus steht.