In seinem Urteil vom 07.09.2023 (Az. C-601/21) hat der EuGH erörtert, welche öffentlichen Interessen als wesentliche Sicherheitsinteressen angesehen werden können, die eine Ausnahme von der Anwendung des EU-Vergaberechts rechtfertigen.
Im konkreten Fall hatte der Mitgliedstaat Polen Aufträge für die Herstellung diverser amtlicher Dokumente (darunter Personalausweise, Reisepässe, Dienstausweise von Polizisten und Militärangehörigen) sowie die Lieferung von Computersystemen und Datenbanken, die für solche amtlichen Dokumente erforderlich sind, gesetzlich vom europäischen Vergaberecht ausgenommen. Die EU-Kommission war jedoch der Meinung, dass diese Ausnahmebestimmungen insgesamt vergaberechtswidrig seien und leitete ein Vertragsverletzungsverfahren ein.
Nach der Entscheidung des EuGHs muss insoweit unterschieden werden:
- Öffentliche Aufträge für die Herstellung persönlicher Dokumente und Identitätskarten von Militärangehörigen, von Dienstausweisen für Polizisten, Bediensteten des Grenzschutzes, des Staatsschutzes, der inneren Sicherheit und der Nachrichtendienste, berühren das wesentliche Sicherheitsinteresse eines Unionsstaates und dürfen deshalb ohne europaweite Ausschreibung direkt vergeben werden.
- Hinsichtlich der sonstigen amtlichen Dokumente (Personalausweise, Reisepässe) gelte dahingegen das Vergaberecht weiter fort – die Anwendung der vorgesehenen Vergabeausnahmen sei hierbei unverhältnismäßig. Es müsse nachgewiesen werden, dass mit einem förmlichen Vergabeverfahren, die für den Schutz der wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaates verfolgten Ziele nicht erreicht werden könnten.
Für die Sicherstellung der kontinuierlichen Versorgung mit amtlichen Dokumenten durch die Direktbeauftragung eines Staatsunternehmens habe Polen nicht nachgewiesen, dass das Ziel nicht ebenso durch ein Vergabeverfahren hätte erreicht werden können. Auch sei nicht nachgewiesen worden, dass die Versorgungssicherheit durch die Beauftragung anderer Produzenten, vor allem wegen deren möglicher Insolvenz, erheblich mehr gefährdet sei oder die Vertraulichkeit der Daten nicht anderweitig, z. B. durch Geheimhaltungsvereinbarungen, sichergestellt werden könne.
Was gilt es also zu beachten?
Die Entscheidung erinnert daran, dass allgemeine und besondere Ausnahmen des Vergaberechts eng ausgelegt werden müssen. Im nationalen Recht sind in §§ 107 Abs. 2, 117 GWB Vergabeausnahmen für Fälle geregelt, in denen wesentliche Sicherheitsinteressen berührt sind. Es können jedoch nicht alle Beschaffungsmaßnahmen, die irgendeinen Bezug zu den wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaates haben, automatisch ohne die Anwendung des EU-Vergaberechts durchgeführt werden.
Der öffentliche Auftraggeber muss im Einzelfall abgrenzen zwischen Leistungen, die im öffentlichen Interesse liegen und solchen Leistungen, die mit den wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaats in Verbindung stehen und ein so hohes Maß an Vertraulichkeit erfordern, das in einem wettbewerblichen Vergabeverfahren nicht gewährleistet werden kann. Nur letztere Leistungen fallen ausnahmsweise nicht unter die Anwendbarkeit des Vergaberechts. Zugleich wird aber deutlich, dass der EuGH die Wahrung nationaler Sicherheitsinteressen sehr ernst nimmt und bei gesteigert sicherheitsrelevanten Leistungen ein Absehen von der Anwendung des EU-Vergaberechts für zulässig erachtet.
Bei weniger sicherheitsrelevanten Leistungen kann oftmals durch sachgerechte Vorkehrungen im Vergabeverfahren (z. B. Begrenzung des Bieterkreises, Herausgabe sensibler Dokumente nur an qualifizierte Bieter und unter Abgabe einer Geheimhaltungserklärung) ausreichende Vorsorge getroffen und eine Vergabe im Wettbewerb unter Wahrung berechtigter Geheimhaltungs- und Sicherheitsinteressen erfolgen.