EuGH – Mylan AB vs. Gilead u. a.

In seinem Urteil vom 11.01.2024 – C-473/22 – entschied der Gerichtshof über die Vereinbarkeit einer verschuldensunabhängigen Haftungsregelung mit Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48.

Sachverhalt

Im hiesigen Fall hatte der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden, das die Auslegung von Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums betraf. Dem Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV lag ein Rechtsstreit zwischen der Mylan AB auf der einen Seite und der Gilead Sciences Finland Oy, der Gilead Biopharmaceutics Ireland UC und der Gilead Sciences Inc. (nachfolgend: Gilead u. a.) auf der anderen Seite zugrunde.

Im Kern geht es um den Ersatz des Schadens, welcher der Mylan AB durch eine einstweilige Maßnahme entstanden ist, die auf Antrag von Gilead u. a. erlassen worden war und später wieder aufgehoben wurde. Insoweit beantragte die Mylan AB beim finnischen Marktgericht Gilead u. a. zu verurteilen, an sie Schadenersatz i. H. v. 2.367.854,99 € zuzüglich Zinsen zu zahlen.

Das finnische Marktgericht entschloss sich in diesem Zusammenhang, das Verfahren auszusetzen und legte dem EuGH die nachfolgenden Fragen zur Entscheidung vor.

Vorlagefragen

1. Ist eine in Finnland geltende und auf verschuldensunabhängiger Haftung beruhende Schadenersatzregelung als mit Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 vereinbar anzusehen?

2. Falls die erste Frage verneint wird: Auf welcher Art von Schadenshaftung beruht dann die Haftung nach Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48? Ist anzunehmen, dass es sich bei dieser Haftung um eine Form von Verschuldenshaftung, eine Form von Haftung wegen Rechtsmissbrauchs oder eine Haftung aus sonstigem Grunde handelt?

3. Bezugnehmend auf die zweite Frage: Welche Umstände sind für die Beurteilung, ob eine Haftung besteht, zu berücksichtigen?

4. Ist, insbesondere, was die dritte Frage betrifft, die Beurteilung allein auf der Grundlage der beim Erwirken einer einstweiligen Maßnahme bekannten Umstände vorzunehmen oder darf z. B. berücksichtigt werden, dass das Recht des geistigen Eigentums, mit dessen angeblicher Verletzung die einstweilige Maßnahme begründet wurde, später, nach ihrer Erwirkung, für von Beginn an nichtig erklärt wurde, und wenn ja, welche Bedeutung wäre letztgenanntem Umstand beizumessen?

Entscheidung

Vorlagefrage 1)

Zur ersten Vorlagefrage führte der EuGH aus, dass ausweislich des Wortlauts des Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 drei Voraussetzungen durch das befasste Gericht zu prüfen seien:

(1) Zunächst sei zu prüfen, ob die einstweiligen Maßnahmen aufgehoben oder aufgrund einer Handlung oder Unterlassung des Antragstellers hinfällig sind oder bereits keine Verletzung oder drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums vorlag.

(2) Anschließend müsse ferner das Bestehen eines Schadens geprüft werden.

(3) Schließlich sei das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem konkreten Schaden und den etwaigen einstweiligen Maßnahmen zu prüfen.

Mithin werde das Vorliegen eines Verschuldens des Antragstellers nicht als Voraussetzung dieser Bestimmung genannt. In diesem Zusammenhang setzt sich die Entscheidung des EuGHs mit der Systematik der Richtlinie, den Regelungszielen sowie der Entstehungsgeschichte auseinander, um festzustellen, ob Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 den Mitgliedstaaten eine spezifische Haftungsregelung für Antragsteller auf Erlass einstweiliger Maßnahmen auferlege. Der EuGH gelangt zu dem Ergebnis, dass Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 lediglich einen Mindeststandard vorsehe und den Mitgliedstaaten einen Handlungsspielraum belasse, der es ihnen ermögliche, eine verschuldensunabhängige oder eine verschuldensabhängige Haftungsregelung zu wählen.

Der den Mitgliedstaaten eingeräumte Handlungsspielraum werde allerdings durch die Vorgaben des Art. 3 der Richtlinie 2004/48 begrenzt. Denn gemäß Art. 3 der Richtlinie 2004/48 müssten die Mittel zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums fair, verhältnismäßig und abschreckend sein und so angewendet werden, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden würden.

Zur Beurteilung der Konformität einer verschuldensunabhängigen Haftungsregelung sei zu prüfen, ob das betreffende System der einstweiligen Maßnahmen fair und verhältnismäßig sei, keine Schranken für den rechtmäßigen Handel zur Folge habe und gleichzeitig abschreckend bleibe.

Im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeit und der Fairness eines Systems einstweiliger Maßnahmen stellt der EuGH fest, dass der Unionsgesetzgeber ein Gleichgewicht zwischen dem Schutzniveau der Rechte des geistigen Eigentums einerseits und den Rechten und Freiheiten des Antragsgegners andererseits habe sicherstellen wollen. Insoweit habe der Unionsgesetzgeber auch Instrumente vorgesehen, um den Gefahren eines möglichen Schadens infolge einer einstweiligen Maßnahme zu begegnen und den Antragsgegner entsprechend zu schützen. Diese Entschädigungsmaßnahmen seien als Gegenstück zu den schnellen und wirksamen einstweiligen Maßnahmen erforderlich.

Das Risiko des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Maßnahme die Gefahr der Durchführung zu beurteilen, entspreche dem Risiko des Antragsgegners, das er eingeht, wenn er möglicherweise rechtsverletzende Erzeugnisse vermarktet. Nach Auffassung des Gerichtshofs sei ein verschuldensunabhängiger Haftungsmechanismus demnach verhältnismäßig. Das Gleichgewicht sei gewährleistet, da die verschuldensunabhängige Haftung der Ausgleich dafür sei, dass der Antragsteller einstweilige Maßnahmen erwirken könne, ohne den endgültigen Beweis für eine Rechtsverletzung zu erbringen.

Eine verschuldensunabhängige Haftungsregelung stelle auch keine Schranke für den rechtmäßigen Handel dar. Denn sofern ein Recht des geistigen Eigentums rückwirkend für nichtig erklärt werde – wie im hiesigen Fall –, so ist festzustellen, dass die unterbundenen Handlungen des Antragsgegners rechtmäßig waren und nicht hätten verhindert werden dürfen.

Zudem werde die abschreckende Wirkung des Systems einstweiliger Maßnahmen nicht infrage gestellt. Der Entschädigungsanspruch sei streng auf die Schäden beschränkt, die dem Antragsgegner durch die ungerechtfertigten einstweiligen Maßnahmen entstanden sind, die der Rechtsinhaber beantragt hatte. Mithin könne der gemäß Art. 9 Abs.7 der Richtlinie 2004/48 vorgesehene Schadenersatzanspruch nicht geltend gemacht werden, um den Teil des Schadens abzudecken, der aus dem Verhalten des Antragsgegners resultiere und möglicherweise zur Erhöhung des ursprünglich durch die einstweiligen Maßnahmen verursachten Schadens geführt habe.

Insgesamt sei die erste Vorlagefrage somit dahin gehend zu beantworten, dass Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehe, die einen Mechanismus zum Ersatz des durch eine einstweilige Maßnahme im Sinne dieser Bestimmung verursachten Schadens vorsehen, wobei dieser Mechanismus auf der Regelung einer verschuldensunabhängigen Haftung des Antragstellers beruhe und das Gericht im Rahmen dieses Mechanismus befugt sei, die Höhe des Schadenersatzes unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, einschließlich einer etwaigen Beteiligung des Antragsgegners an der Verwirklichung des Schadens, anzupassen.

Vorlagefragen 2) bis 4)

Angesichts der Antwort auf die erste Frage war die Beantwortung der weiteren Fragen hinfällig.

Fazit

Das Urteil des EuGHs ist für die Praxis von wesentlicher Bedeutung, da nunmehr Klarheit darüber herrscht, dass auch ein auf einer verschuldensunabhängigen Haftung beruhendes System mit Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/38 vereinbar ist. Die anhaltenden Unklarheiten über die Auslegung im Zuge der Entscheidung „Bayer Pharma“ des EuGHs haben somit ein Ende.

Entsprechend ist auch die im deutschen Recht vorgesehene verschuldensunabhängige Haftung gem. § 945 ZPO – ergänzt durch die §§ 249 ff. BGB – mit Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 vereinbar.

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Steffen Weinberg, LL.M.

Steffen Weinberg, LL.M.

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