BVerfG: „Korrupter Amtsträger“ keine üble Nachrede, aber möglicherweise Beleidigung

Mit Beschluss vom 04.04.2024 (Az: 1 BvR 820/24) entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die strafrechtliche Verurteilung eines Klimaaktivisten wegen übler Nachrede die Meinungsfreiheit verletzt.

Hintergrund

In politisch aufgeheizten Zeiten geht es auch verbal mitunter hitzig zu. Entsprechend sind auch die Gerichte aktuell in zahllosen Verfahren mit der Frage beschäftigt, ob bestimmte Äußerungen im politischen Meinungskampf noch vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) gedeckt sind oder die Betroffenen in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzen. Wird eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts angenommen, zieht die Äußerung verschiedene Konsequenzen nach sich: Sie kann strafbar nach den Äußerungsdelikten des § 185 ff. StGB sein und zivilrechtliche Unterlassungs- sowie Schadenersatzansprüche auslösen. Wird eine rechtswidrige Äußerung über Online-Plattformen verbreitet, besteht zudem ein Anspruch auf Löschung oder Sperrung gegenüber dem Plattformbetreiber.

Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen ist die Meinungsfreiheit besonders zu gewichten, ist sie doch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts „schlechthin konstituierend“ für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Entsprechend gilt bei Äußerungen zu Anliegen von öffentlichem Interesse eine Vermutung zugunsten der freien Rede. Allerdings ist eine Äußerung nicht mehr schutzwürdig, wenn mit ihr unwahre Tatsachenbehauptungen verbreitet werden oder eine besonders harsche, ins Persönliche zielende „Schmähkritik“ vorliegt. Wie die Gerichte entscheiden, hängt stets von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.

Eine besondere rechtliche Würdigung verlangen Äußerungen über Politiker und Amtsträger. Hierfür liefert der vom Bundesverfassungsgericht entschiedene Fall ein aktuelles Beispiel:

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer ist Klimaaktivist und nahm 2022 an einem „Klimacamp“ teil. Die Teilnehmer des Camps kritisierten die von einer bayerischen Bezirksregierung erteilte artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung für den Betrieb eines Stahlwerks. Der Beschwerdeführer begab sich zusammen mit anderen Personen zum Sitz der Bezirksregierung. Dort wurden u. a. auf der Straße mit Kreide der Schriftzug „Unerhört: [Regierungspräsident] erlaubt Waldrodung für 250 €. Alle Wälder bleiben! Korruption […]!“ aufgemalt. Auf Pappschildern und Plakaten „Korruption für 250,- Euro Frech! […]wald-Rodung genehmigen trotz laufender Gerichtsverfahren? Frech!“ sowie „Den […]wald für 250 € verhökern? Frech!“

Das Amtsgericht Augsburg verurteilte den Beschwerdeführer unter anderem wegen übler Nachrede gegenüber einer Person des öffentlichen Lebens (§§ 186, 188 StGB). Seine Beschwerde zum Landgericht Augsburg blieb erfolglos. Nach Auffassung des Landgerichts habe der Beschwerdeführer die unwahre Tatsache verbreitet, dass der Regierungspräsident korrupt sei. Daher müsse in einer Gesamtwürdigung das Recht auf freie Meinungsäußerung hinter dem Persönlichkeitsrecht des Geschädigten zurückstehen. Gegen die strafrechtliche Verurteilung legte der Beschwerdeführer eine Urteilsverfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein und machte geltend, die Urteile verletzten ihn in seiner Meinungsfreiheit.

Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht gab der Beschwerde statt: Die Strafgerichte hätten die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers verletzt. Die strafrechtliche Würdigung sei zwar Sache der Instanzgerichte; eine Verletzung der Meinungsfreiheit könne jedoch darin bestehen, dass der Sinn einer Äußerung durch die Gerichte unzutreffend erfasst werde.

So lag der Fall hier. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts hatten die Instanzgerichte zu Unrecht die Äußerung, der Regierungspräsident sei korrupt, als eine (unwahre) Tatsachenbehauptung bewertet. Da unwahre Tatsachenbehauptungen in aller Regel nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt sind, führte diese Einschätzung zur Verurteilung des Beschwerdeführers wegen ü bler Nachrede. Anders wäre der Fall aber zu beurteilen, wenn keine (unwahre) Tatsachenbehauptung, sondern ein Werturteil vorläge: Während Tatsachenbehauptungen dem Beweis zugängliche Äußerungen darstellen, handelt es sich bei Werturteilen um Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind.

Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, die Gerichte hätten außer Acht gelassen, dass die Äußerung, jemand sei „korrupt”, abhängig vom Gesamtkontext durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sei und deshalb in vollem Umfang am Schutz des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG teilnehmen könne. Bereits die nicht tragfähige Deutung der Äußerung als Tatsache führe zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen. Denn es lasse sich nicht ausschließen, dass die Gerichte, wenn sie bei Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Anforderungen vom Vorliegen einer geschützten Meinung ausgehen, zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen werden. Die instanzgerichtlichen Urteile wurden deshalb aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurück an das Amtsgericht Augsburg verwiesen.

Interessant ist, was das Bundesverfassungsgericht noch zur strafrechtlichen Würdigung der Äußerung des Beschwerdeführers anmerkt: Mit der Aufhebung der instanzgerichtlichen Urteile sei noch nicht abschließend entschieden, dass die Bezeichnung des Regierungspräsidenten als „korrupt“ von der Meinungsfreiheit gedeckt ist: „Soweit es sich nicht um eine Tatsachenbehauptung, sondern um ein Werturteil handeln sollte, läge hierin jedenfalls eine Herabsetzung des von der Äußerung Betroffenen und damit eine Beeinträchtigung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die nicht ohne weiteres zulässig ist. Inwieweit diese Äußerung durch die Meinungsfreiheit gerechtfertigt sein kann, entscheidet sich grundsätzlich nach Maßgabe einer Abwägung.“

Würdigung und Ausblick

Die Entscheidung zeigt, dass die Gerichte größte Sorgfalt auf die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil legen müssen. Da die Einordung als Tatsachenbehauptung tendenziell weniger Schutz verspricht, ist im Zweifel von einem Werturteil auszugehen.

Möglicherweise erweist sich der Erfolg des Beschwerdeführers aber als Pyrrhussieg: Denn ihm droht erneut eine strafrechtliche Verurteilung – diesmal jedoch nicht wegen übler Nachrede, sondern wegen eines ehrverletzenden Werturteils, welches den Beleidigungstatbestand (§ 185 StGB) erfüllt. Dass das Bundesverfassungsgericht hierauf – ohne Veranlassung – hinweist, überrascht nicht: Seit der „Künast“-Entscheidung von 2021 betont das Bundesverfassungsgericht den Ehrschutz für Politiker und Amtsträger im Rahmen der Abwägung tendenziell stärker. Damals führten die Richter aus, eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft könne nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet sei.

Allerdings darf auch nicht jede polemische Kritik an Politikern und Amtsträgern unterbunden werden. Von einzelnen Bürgern kann nicht erwartet werden, dass sie jedes Wort „auf die Goldwaage“ legen, wenn sie sich zu öffentlichen Belangen äußern. Andernfalls würden sie vom Gebrauch der Meinungsfreiheit abgeschreckt. Dabei ist doch der Schutz der Meinungsfreiheit, wie das Bundesverfassungsgericht regelmäßig betont, gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der „Machtkritik“ erwachsen und findet darin unverändert seine Bedeutung. Gerade wenn harsch formulierte Kritik einen sachlichen Anknüpfungspunkt aufweist, spricht viel für eine (noch) zulässige Meinungsäußerung. Diesen Umstand wird auch das Amtsgericht Augsburg bei seiner erneuten Entscheidung zu berücksichtigen haben.

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Dr. Jörg Frederik Ferreau

Dr. Jörg Frederik Ferreau

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