Gerade jetzt in der kalten Jahreszeit nimmt der Krankenstand zu … Krankheit und Krankschreibung – Neuigkeiten vom Bundesarbeitsgericht zum Beweiswert von ärztlichen Attesten?

Mit seiner neuen Entscheidung stellt das BAG (5 AZR 335/22) klar, dass einem ordnungsgemäß ausgestellten Attest auch weiterhin ein hoher Beweiswert zukommt und ein bloßes Bestreiten der Krankheit durch den Arbeitgeber nicht genügt.

Der Beweiswert kann allerdings auch dann erschüttert sein, wenn der Arzt bei der Ausstellung des Attestes gegen die Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie verstößt. Ein genauer Blick kann sich daher für den Arbeitgeber lohnen.

DER FALL

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und dabei insbesondere über den Beweiswert der vom Kläger eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.

Der Kläger war bei der Beklagten als technischer Sachbearbeiter beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund fristgemäßer Kündigung der Beklagten vom 1. September 2020, die der Kläger am 2. September 2020 erhielt. Für die Zeit vom 7.  September 2020 bis zum 30. September 2020 legte der Kläger zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, eine Erstbescheinigung vom 7. September 2020 über Arbeitsunfähigkeit bis zum 20. September 2020 und eine Folgebescheinigung vom 21. September 2020 über fortbestehende Arbeitsunfähigkeit bis zum 30. September 2020.

Die Beklagte zahlte für September 2020 weder Arbeitsvergütung noch Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Mit seiner Klage hat der Kläger Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verlangt. Er hat gemeint, seine Arbeitsunfähigkeit habe er durch die der Beklagten vorgelegten Bescheinigungen nachgewiesen, deren Beweiswert nicht erschüttert sei. Aufgrund starker Schmerzen und Bewegungseinschränkungen habe er die geschuldete Arbeitsleistung als technischer Sachbearbeiter nicht ausführen können.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, der Beweiswert der für die Zeit ab dem 7. September 2020 vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Sie seien nicht entsprechend den Vorgaben der „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V“ (im Folgenden: Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) ausgestellt worden. Nach § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (in der im September 2020 geltenden Fassung) müssten Symptome – hier „Schulterschmerzen“ – nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose ersetzt werden.

Das Arbeitsgericht hat der Klage ganz überwiegend stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte die von ihr begehrte Klageabweisung weiter, während der Kläger die Zurückweisung der Revision beantragt.

DIE ENTSCHEIDUNG

Die zugelassene Revision der Beklagten ist unbegründet und hatte vor dem BAG keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 7. bis zum 30. September 2020 einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall aus § 3 Abs. 1 EFZG.

Das BAG stellte in seinem Urteil nochmals klar, dass die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit sei.

Das BAG führte zwar aus, dass ein Verstoß gegen § 5 Abs.  1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie grundsätzlich den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern könne. Dennoch sah das BAG in dem vorliegenden Fall keinen relevanten Verstoß gegen die Norm. Die ärztliche Feststellung, die dem ICD-10-Code „M25.51 G R“ zugrunde liege, könne laut BAG durchaus als Diagnose angesehen werden. Dies würde sich qualitativ von der bloßen Feststellung unspezifischer Symptome unterscheiden. Nach Auffassung des BAG würde die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie nicht verlangen, dass der Arzt bereits ab der zweiten Woche der Arbeitsunfähigkeit konkrete Schmerzursachen attestieren würde.

Damit schloss sich das BAG der Vorinstanz an.

PRAXISHINWEIS

Arbeitgeber sollten die von ihren Mitarbeitern vorgelegten Atteste kritisch überprüfen. Dies gilt insbesondere, soweit eine gleichzeitige Vorlage des Attestes mit einer Eigenkündigung erfolgt.

Auch ein Blick in die Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie kann sich lohnen.

Wird eine Erstbescheinigung entgegen dem Grundsatz der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie „direkt“ für vier, fünf oder sechs Wochen ausgestellt, kann dies ein Indiz für eine Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung darstellen, denn nach dem Grundsatz der Richtlinie sollen Ärzte im Grundsatz zunächst eine Arbeitsunfähigkeit von nicht mehr als zwei Wochen bescheinigen.

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Anne C. Jonas

Anne C. Jonas

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