Unveränderte Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess

Längst war es gesicherte Rechtsprechung, dass Arbeitnehmer/-innen, wenn es um die Abgeltung von geleisteten Überstunden geht, diese auch nachweisen müssen. Dabei reicht es nicht, die Stunden und die dabei geleistete Tätigkeit zu protokollieren – es muss zudem dargelegt werden, dass die Überstunden vom Arbeitgeber veranlasst wurden, d. h. von diesem angewiesen oder zumindest geduldet oder nachträglich gebilligt wurden, etwa, weil die aufgetragene Arbeit nur über die Ableistung von Überstunden erledigt werden konnte.

Seitdem das Unionsrecht eine Pflicht zur Einführung eines Systems zur Messung der vom Arbeitnehmer geleisteten täglichen Arbeitszeit vorsieht, wurden Zweifel laut, ob das Bundesarbeitsgericht (BAG) an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten würde. Diese Zweifel hat das BAG nunmehr ausgeräumt und hält ausdrücklich an den von ihm aufgestellten Grundsätzen fest (BAG, Urteil vom 04.05.2022 – 5 AZR 329/21).

DER FALL

Der Kläger war als Auslieferungsfahrer bei der Beklagten, die ein Einzelhandelsunternehmen betreibt, beschäftigt. Seine Arbeitszeit erfasste der Kläger mittels technischer Zeitaufzeichnung, die nur Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit ohne Pausenzeiten aufzeichnete. Mit seiner Klage hat der Kläger eine Überstundenvergütung in Höhe von 5.222,67 € brutto für 348 auf diese Weise aufgezeichnete Überstunden verlangt. Er hat geltend gemacht, er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet, ohne eine Pause genommen zu haben. Pausen zu nehmen sei ihm gar nicht möglich gewesen, weil sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können. Die Beklagte hat dies bestritten.

Die erste Instanz, das Arbeitsgericht Emden, gab der Klage statt. Dies erfolgte unter Berufung auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus Mai 2019 zur Arbeitszeiterfassung (Urt. v. 14.5.2019, Az: C-55/18), in dem die Pflicht zur Zeiterfassung festgestellt wurde. Durch diese Pflicht werde nach Ansicht des Arbeitsgerichts Emden die Darlegungs- und Beweislast für die Überstundenabgeltung modifiziert. In Abweichung der vorherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung sei es nunmehr ausreichend für eine schlüssige Begründung der Klage, die Zahl der geleisteten Überstunden vorzutragen. Die Kenntnis von Überstunden als eine Voraussetzung für deren arbeitgeberseitige Veranlassung sei nämlich nicht erforderlich, wenn der Arbeitgeber sich die Kenntnis durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung hätte verschaffen können. Da die Beklagte ihrerseits nicht hinreichend konkret die Inanspruchnahme von Pausenzeiten durch den Kläger dargelegt habe, sei die Klage begründet.

DIE ENTSCHEIDUNG

Im Einklang mit der Berufungsinstanz, die das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage im Wesentlichen abgewiesen hatte, hielt das BAG an seiner bisherigen Rechtsprechung fest.

Die Entscheidung des EuGHs sei zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergangen. Die Bestimmungen würden dabei Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zum Schutze der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer regeln. Zu Fragen der Vergütung verhalte sie sich nicht. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit habe deshalb keine Auswirkung auf die nach deutschem materiellen und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess. Hiervon ausgehend habe das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen, der Kläger habe nicht hinreichend konkret dargelegt, dass es erforderlich gewesen sei, ohne Pausenzeiten durchzuarbeiten, um die Auslieferungsfahrten zu erledigen. Die bloße pauschale Behauptung ohne nähere Beschreibung des Umfangs der Arbeiten genüge hierfür nicht. Das Berufungsgericht konnte nach Ansicht des BAG daher offenlassen, ob die von der Beklagten bestrittene Behauptung des Klägers, er habe keine Pausen gehabt, überhaupt stimmt.

DAS FAZIT

Die gefürchtete Prozesswelle auf Überstundenabgeltung dürfte mit dieser Entscheidung abgewendet worden sein. Auch die in vielen Unternehmen gerade im Zusammenhang mit dem beliebten Homeoffice-Modell bestehende Vertrauensarbeitszeit scheint mit dieser Entscheidung außer Gefahr zu sein.

Trotzdem ist das Thema Arbeitszeiterfassung weiterhin akut; der nationale Gesetzgeber wird früher oder später auf das Urteil des EuGHs reagieren müssen. Auch wenn die Zeiterfassung im Arbeitsschutzsinne erfolgen soll, steht zu erwarten, dass sie Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen bei der künftigen Geltendmachung von Überstundenvergütung durchaus hilfreich sein wird.