Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bei altem Stand der Technik

In seiner Entscheidung „Gestricktes Schuhoberteil“ vom 31.01.2017 (Az. X ZR 119/14) beschäftigt sich der BGH mit der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bei altem Stand der Technik.

Die Beklagte ist Inhaberin des Streitpatents, welches einen Schuh mit einer Sohle und einem an der Sohle befestigten gestrickten Oberteil sowie ein Verfahren zur Herstellung des gestrickten Oberteils betrifft.

Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei auch in der nach Durchführung des Beschränkungsverfahrens engeren Fassung unzulässig erweitert; er sei nicht neu und beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Die Beklagte hat das Streitpatent in der geltend gemachten Fassung und mit zahlreichen Hilfsanträgen verteidigt. Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie das Streitpatent in einer weiter beschränkten Fassung und hilfsweise mit weiteren Anspruchsfassungen verteidigt. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Der BGH kommt zu dem Ergebnis, dass auch die mit den Hilfsanträgen verteidigten Fassungen des Streitpatents nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhen. Dem Naheliegen der technischen Lösung wird eine mehrere Jahrzehnte alte Auslegeschrift entgegengehalten. Der zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents fast 50 Jahre zurückliegende Anmeldetag der Entgegenhaltung stehe dem nicht entgegen.

In diesem Zusammenhang weist der BGH auf die Rechtsprechung hin, wonach die Frage, ob es sich bei einer Entgegenhaltung um den nächstliegenden Stand der Technik handelt, nicht davon abhänge, ob sich dem Fachmann ein bestimmter Stand der Technik als möglicher Ausgangspunkt seiner Bemühungen anbot. Die Anordnung eines bestimmten Ausgangspunkts als – aus ex-post-Sicht – nächstkommender Stand der Technik sei weder ausreichend noch erforderlich. Die Wahl des Ausgangspunkts bedürfe daher der Rechtfertigung, die in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns liegt, für einen bestimmten Zweck eine bessere oder andere Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt (BGH, GRUR 2009, 382 – Olanzapin; BGH, GRUR 2017, 148 – Opto-Bauelement).

Dabei bilde das Alter einer bestimmten Entgegenhaltung nur eines von mehreren als relevant in Frage kommenden Kriterien. Nach der Rechtsprechung des BGH sei es eine Frage des Einzelfalls, dessen Umstände umfassend zu würdigen sind, ob ein Stagnieren des Stands der Technik über lange Zeit darauf hindeutet, dass die neue Erfindung dem Fachmann durch den Stand der Technik nicht nahegelegt war (BGH, GRUR 2010, 992 – Ziehmaschinenzugeinheit II).

Weiter stellt der BGH klar, dass es ebenso eine Frage des Einzelfalls sei, ob außer aktuellen technischen Lösungen, die der Fachmann in der Regel ohne Weiteres auf ihre Eignung als Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung prüfen wird, hierfür auch ältere Lösungen in Betracht zu ziehen sind. Zu den zu würdigenden Umständen könnten die Entwicklungszyklen auf dem in Rede stehenden Gebiet ebenso gehören wie die Abhängigkeit der Produktentwicklung von außertechnischen Faktoren, so etwa in der Bekleidungs- und Schuhindustrie zu berücksichtigenden jeweils aktuellen modischen Trends. Es könne aber auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die zur Rechtfertigung des vom Fachmann gewählten Ausgangspunkts anzustellenden Überlegungen nur ein Hilfskriterium bei der Beurteilung der Frage betreffen, ob die technische Lehre der Erfindung auf erfinderischer Tätigkeit beruht.

Bliebe eine seit vielen Jahren bekannte technische Lösung, die die wesentlichen Elemente der Erfindung bereits enthält, mit der Begründung unbeachtet, der Fachmann hätte den Lösungsansatz wegen des zeitlichen Abstands nicht in Betracht gezogen, würde nicht ein neuer und erfinderischer Beitrag zum Stand der Technik mit einem Schutzrecht gewürdigt. In diesem Fall würde die bloße „Wiederentdeckung“ eines bekannten technischen Konzepts prämiert. Es bedürfe daher in derartigen Fällen einer besonders sorgfältigen Prüfung, ob die ältere Lösung tatsächlich außerhalb desjenigen Bereichs liegt, in dem sich am Prioritätstag aus fachmännischer Sicht mögliche Ansatzpunkte für die Lösung des technischen Problems finden ließen.

Dass für den Fachmann eine bestimmte Entgegenhaltung als möglicher Ausgangspunkt von Bemühungen um eine Fortentwicklung in Betracht kam, darf insbesondere bei im Prioritätszeitraum sehr altem Stand der Technik nicht allein aus der sachlichen Nähe zur erfindungsgemäßen Lösung gefolgert werden. Enthält jedoch eine seit vielen Jahren bekannte technische Lösung bereits alle wesentlichen Elemente der Erfindung, darf die Annahme, die ältere Lösung liege außerhalb desjenigen Bereichs, in dem sich am Prioritätstag aus fachmännischer Sicht mögliche Ansatzpunkte für die Lösung des technischen Problems finden ließen, einer besonders sorgfältigen Prüfung (Amtlicher Leitsatz des BGH).

Quelle: BGH vom 31.01.2017, X ZR 119/14